lautstark. 16.02.2024

Zeitpolitik: Her mit dem ganzen Leben!

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Zukunftsperspektiven der GEW

Als Gewerkschafter*innen gestalten wir Visionen für bessere Zeiten und setzen Zeit auf die politische Agenda: Was bedeutet Zeitsouveränität für alle Menschen und warum spielt feministische Zeitpolitik eine zentrale Rolle? Ist die 32-Stunden-Woche die Vollzeit der Zukunft? Und wie kommen unterschiedliche GEW-Kulturen zum Thema Zeit an einen Tisch?

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2024 | Zukunft von Bildung und Arbeit: Gute Aussichten?
  • Autor*in: Frauke Gützkow
  • Funktion: Vorstandsmitglied der GEW für Frauen-, Gleichstellungs-, Geschlechterpolitik
Min.

Wenn wir als Gewerkschafter*innen von Zeit sprechen, nehmen wir das ganze Leben in den Blick: Zeit für den Beruf und für Bildung, Zeit für Familie und für Freundschaften, Zeit für sich selbst und für politisches Engagement. All das muss in die Erwerbsarbeitszeitkultur einfließen. Es geht um Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten und deshalb um Zeitsouveränität für die Beschäftigten.

Zeitsouveränität eröffnet Optionen für alle Erwerbsformen und Lebensweisen

Zeitsouveränität ist zunächst einmal die Möglichkeit, über die Art und Weise zu entscheiden, wie wir unsere Zeit verbringen möchten. Arbeitnehmer*innen eröffnet sie Optionen dafür, ihr Arbeitsleben so zu arrangieren, wie es für ihre Situation angemessen ist. Es geht um flexible Arbeitsweisen, eine bessere Work-Life-Balance und darum, in verschiedenen Lebensphasen und Lebenslagen Gestaltungsspielräume zu haben. Zeitsouveränität ist mehr als nur gutes Zeitmanagement, da sie den Menschen die Kontrolle darüber gibt, wie sie ihr Leben einteilen, statt lediglich Zeit innerhalb vorgeschriebener Stunden zu organisieren.

Zeitsouveränität bedeutet also den Abschied von gleichförmigen Mustern der Regelarbeitszeit und der Annahme eines Normalarbeitsverhältnisses und einer Normalarbeitszeit, die für alle gelte, hin zur Anpassung an vielfältige Erwerbsformen und Lebensweisen. Und dennoch brauchen wir einen Orientierungsrahmen: 32 Stunden als neues Maß für Vollzeiterwerbstätigkeit.

Umverteilung von Sorgearbeit beendet die heteronormative Sicht auf die Gesellschaft

Frauen wenden im Schnitt täglich 1,5 Stunden mehr für Sorgearbeit auf als Männer, der Gender-Care-Gap beträgt 52 Prozent. Um dieses Ungleichgewicht zu verändern, reicht es nicht, wenn Frauen ihre Erwerbstätigkeit ausweiten: Männer müssen mehr unbezahlte Sorgearbeit übernehmen. Ein wichtiges Instrument, um eine partnerschaftliche und gerechte Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu fördern, ist auch hier eine kurze Vollzeit für alle Beschäftigten, die 32-Stunden-Woche als neue Norm.

Zeit, Geld und Infrastruktur sind die entscheidenden Stellschrauben einer erfolgreichen Politik der Umverteilung von Sorgearbeit, für bessere Erwerbschancen von Frauen, mehr Sorgearbeit von Männern, ein entspannteres Familienleben und gerechte Bildungschancen aller Kinder. Wir sprechen davon, Sorgearbeit umzuverteilen, und nicht mehr von der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn in der Vereinbarkeitsfalle finden sich Frauen wieder, sie haben geringere Aufstiegschancen im Beruf, geringere Einkommen und geringere Renten, wenn sie die Hauptverantwortung für die Sorgearbeit übernehmen. Je mehr Sorgearbeit Frauen übernehmen, desto weniger Zeit bleibt ihnen, ein auskömmliches eigenes Einkommen zu erwirtschaften.

Viele junge Menschen erwarten heute, dass sie nicht nur gleichberechtigt im Berufsleben tätig werden können, sondern auch, dass der Beruf das Private nicht vollständig dominiert. Kinder leben in Regenbogenfamilien, trans*, inter*, nichtbinäre Personen sind Eltern und erwerbstätig. Doch noch immer ist die heteronormative Sicht auf die Gesellschaft prägend für Nachteile im Erwerbsleben. Deshalb wird in diesem Kontext nicht in einer geschlechtsneutralen Sprache, sondern mit den Begriffen Frauen und Männer formuliert.

Orientierung am Lebensverlauf bietet Sicherheit in allen Phasen

Ziel ist es, Erwerbs- und Sorgearbeit besser zu verbinden, die Sorgearbeit partnerschaftlich über den Lebensverlauf hinweg zu teilen, das heißt: kürzere Erwerbsarbeitszeiten, befristete Auszeiten vom Job oder vorübergehende Reduzierung der Wochenarbeitszeit, bezahlte Eltern- und Pflegezeit, der Ausbau der Pflegeinfrastruktur, haushaltsnahe Dienstleistungen, Zeit für Weiterbildung. Die Balance von Erwerbsarbeit und Familie sowie die eigenständige Existenzsicherung in Lebensphasen, in denen die Erwerbsarbeit reduziert wird, müssen gesetzlich und tariflich abgesichert werden.

Die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ist ein mittelfristiges Ziel. Das Recht, aus einer Teilzeitbeschäftigung auf einen Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, kann schon jetzt verbessert werden und hilft derzeit vor allem Frauen, die in der Teilzeitfalle festhängen. Arbeitgeber*innen tragen dabei eine große Verantwortung: Sie müssen die Rechte der Beschäftigten nicht nur kennen, sondern aktiv dazu beitragen, dass Karrierenachteile abgebaut werden, die vor allem für Frauen mit Kindern real sind.

Bei der Weiterentwicklung von Elternzeit und Elterngeld sind Väter besonders in den Blick zu nehmen: Studien zeigen, je früher sie Verantwortung in der Kinderbetreuung übernehmen und in der Elternzeit mit ihren Kindern auch allein zu Hause sind, desto eher werden sie auf Dauer zu aktiven Vätern. All diese Struktur- und Kulturveränderungen müssen Männer mit eigener und lauter Stimme einfordern.

Gewerkschaftliche Zeitpolitik bringt unterschiedliche Kulturen an einen Tisch

In einer Gewerkschaft wie unserer Bildungsgewerkschaft GEW hat nahezu jedes Arbeitsgebiet mit Zeit zu tun. Und es gibt die gewerkschaftliche Zeitpolitik als Bündel aus Teilbereichen, die in diverse Gebiete fallen und von unterschiedlichen Kulturen geprägt sind. Das Ziel ist, diese verschiedenen GEW-Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen, denn sie sprechen unterschiedliche Sprachen und verfolgen unterschiedliche Handlungsansätze. Unter Kulturen verstehen wir zum Beispiel

  • die Kultur „Die Welt ist besser, wenn sie geschlechtergerechter ist“ von Kolleg*innen, die sich dafür einsetzen, dass Frauen im Beruf nicht länger ausgebremst und diskriminiert werden. Ein zentrales Thema dabei ist, die unbezahlte Arbeit für Familie und Haushalt sichtbar zu machen, sie gerecht zwischen den Geschlechtern aufzuteilen und diese Themen als gewerkschaftliches Handlungsfeld zu begreifen.
  • die „Was ist verhandelbar“-Kultur von Kolleg*innen, die Tarifpolitik und Dienstvereinbarungen machen oder Position zur Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung beziehen. Sie haben immer ein Gegenüber, dem in Verhandlungen etwas abgerungen werden muss. Sie nehmen das Erreichbare in den Fokus und sehen gesellschaftspolitische Ziele als Orientierungsrahmen, aber nicht so sehr als handlungsleitend.
  • die „Was brauchen kleine Kinder“-Kultur, die von den Bedürfnissen der Kinder ausgeht und ihre Selbstbildungsprozesse unterstützt. Kitas sind Bildungs- und keine Betreuungseinrichtungen. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen ist für sie eher ein Nebeneffekt. Stimmt die Kitaqualität für die Kinder, verbessern sich auch die Arbeitsbedingungen für Erzieher*innen.
  • die „Raus aus den prekären Arbeitsbedingungen“- Kultur insbesondere von Kolleg*innen an Hochschulen und in der Weiterbildung. Wenn überwiegend befristete Teilzeitverträge angeboten werden, wenn Honorarverträge dominieren und Festanstellungen die Ausnahme sind, stellen sich viele zeitpolitische Fragen anders als beispielsweise im Schulbereich, wo Vollzeit die Norm und Teilzeit eine Option ist, um die sogenannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie leben zu können.
  • die Kultur „Meine zeitlichen Möglichkeiten haben mit meiner Lebensphase zu tun“, die Kolleg*innen in der Rushhour des Lebens betrifft: Sie müssen den beruflichen Ein- oder Aufstieg mit der Familiengründung unter einen Hut bringen. Für sie sieht die Welt anders aus als für Lebensältere, die aus gesundheitlichen Gründen Entlastungen im Beruf fordern oder ihre beruflichen Erfahrungen anders einbringen wollen als bisher.

Das Private ist politisch!

Wir fordern: Her mit dem ganzen Leben! Und zwar für alle Menschen! Denn sie benötigen mehr Zeit – Zeit zum Arbeiten, für Familie und Freundschaften, für gesellschaftliches Engagement und für sich selbst. Die Vorstellungen der meisten Erwerbstätigen vom ganzen Leben bleiben derzeit auf der Strecke. In pädagogischen Berufen herrscht enormer Arbeitsdruck. Auch die Bezahlung stimmt in vielen Bereichen nicht. Honorarkräfte in der Weiterbildung sind genauso wie Alleinerziehende in Teilzeit von Armut bedroht. 32 Stunden Erwerbsarbeit in der Woche sollen ausreichen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Neben gutem Geld für gute Arbeit geht es auch um Lebensphasenorientierung von Arbeits- und Sozialpolitik und die Umverteilung der unbezahlten Sorgearbeit.

Die Beschäftigung mit gewerkschaftlicher Zeitpolitik macht deutlich: Das Private ist politisch! Die sogenannten Frauenthemen werden zum Anliegen der gesamten Organisation. Feministische Zeitpolitik ist mit der Idee von einer Gesellschaft verbunden, in der alle Menschen frei von Stereotypen und Rollenzuschreibungen leben und sich entfalten können. Feminismus dreht sich längst nicht mehr nur um Frauen. Feminismus ist vielmehr ein geschlechterübergreifender Ansatz der gesamten Organisation GEW: Gewerkschaftliche Zeitpolitik – feministisch, was sonst!

Zeitpolitische Zukunftskonferenz der GEW

Visionen für bessere Zeiten

Die Zeitpolitische Zukunftskonferenz der GEW formuliert als zentrale Botschaft: „Es geht um ein gesundes, glückliches, gleichberechtigtes Leben“. Am 26. und 27. Januar 2024 erfuhren die Teilnehmenden vieles zur 32-Stunden-Woche als zukünftiges Vollzeitmodell, warum zu viel Arbeit krank macht, die Politik gut beraten ist, nicht am Arbeitszeitgesetz herumzudoktern und die unbezahlte Sorgearbeit umverteilt werden müsse. Der GEW-Arbeitsbereich Frauen-, Gleichstellungs-, Geschlechterpolitik und Janina Henkes, Referentin GEW-Hauptvorstand, hatten nach Göttingen eingeladen, um Visionen für bessere Zeiten zu entwickeln. Moderatorin Svenja Pfahl vom Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer (SowiTra) erläuterte die Methode der Zukunftswerkstatt, mit der die Teilnehmenden in Gruppen einen Dreischritt von Kritik-, Utopie- und Verwirklichungsphase zum Thema Zeit erarbeiteten, an Tag zwei der Konferenz vorstellten und auf die Umsetzbarkeit prüften. Ihre Forderungen lauteten unter anderem: „Kein Zeitmangel – keine Erschöpfung“, „Mehr Zeit für Gemeinwohl“ und die genaue Erfassung geleisteter Arbeitszeit.

Nachbetrachtung der Zeitpolitischen Zukunftskonferenz der GEW: „Zu viel Arbeit macht krank“