







Marcel Wilmes ist ein Kinder-Magnet. Sie suchen seine Nähe, umringen ihn, wo immer er auftaucht – wie an diesem Mittwochmittag, als der freundliche Mann mit Schaumstoffkeule und Pratze den Schulhof betritt. „Wer möchte seine Wut rauslassen?“, fragt der 39-Jährige und Dutzende kleine Zeigefinger recken sich in die Luft. Nur wenige Augenblicke später stehen die Schüler*innen Schlange, um mit voller Wucht gegen die Pratze schlagen zu dürfen. „Jeder nur zwei Mal“, sagt Marcel Wilmes und blickt in die Runde.
Schule und OGS vermitteln Hand in Hand Alltagskompetenz und Weltwissen
Über dem Hof der Gemeinschaftsgrundschule Europaring in Köln hängen dichte Wolken. Nach dem Mittagessen dürfen sich die Erst- und Zweitklässler*innen noch einmal austoben – ein wichtiges Element der Offenen Ganztagsbetreuung, die Marcel Wilmes und sein Team täglich für rund 150 Kinder anbieten. „Jetzt bist du dran, Benjamin“, sagt der OGS-Leiter und legt dem schmächtigen blonden Jungen die Keule in die Hand. Mit zwei kräftigen Schlägen trifft der Schüler die Pratze, gibt dann an seinen Nachbarn ab. „Wenn du noch mehr Wut hast“, sagt Marcel Wilmes, „dann kannst du nachher noch mal zu mir kommen.“
Übungen zur Gewaltprävention gehören zum Alltag des Multiprofessionellen Teams, das neben Lehrkräften auch Sozialarbeiter*innen und Sonderpädagog*innen umfasst. Die Schule im Stadtteil Neubrück gilt als Brennpunktschule, Sozialindexstufe 9. Seit 2024 ist sie Teil des Startchancen-Programms, das auf die Vermittlung von Basiskompetenzen in Mathe und Deutsch setzt.
Viele der 200 Schüler*innen seien noch nie im Wald gewesen, könnten keine Schleife binden, bräuchten jedes Mal Unterstützung beim Umziehen vor dem Sportunterricht, erzählt Schulleiter Igor Preuß. „Niemand sucht sich aus, in welche Verhältnisse er geboren wird. Deshalb ist es unsere große Aufgabe, den Kindern Alltagskompetenzen und Weltwissen zu vermitteln.“


Die aktuelle Situation schafft prekäre Beschäftigungs-verhältnisse, gerade für Frauen. Nicht nur sie brauchen eine angemessene Vergütung für ihre Arbeit in der OGS.
In Neubrück arbeiten Schule und Offener Ganztag Hand in Hand. „Unsere pädagogischen Konzepte sind eng miteinander verwoben“, betont Igor Preuß. Das sei gerade bei Themen wie Kinderschutz und sozialem Lernen wichtig. Auch die Schulregeln, die gerahmt in allen Treppenhäusern aushängen, seien im Unterricht ebenso gültig wie im Offenen Ganztagsbetrieb. „Wenn vormittags etwas vorgefallen ist, dann werden wir in der OGS informiert und können ein Auge drauf haben“, sagt Marcel Wilmes.
Seit 2015 arbeitet der Kindheits- und Sozialwissenschaftler in der OGS der Kölner Grundschule – zuerst nebenberuflich als Gruppenleitung während des Studiums, seit 2017 als Leiter des Offenen Ganztags. Der 39-Jährige vermittelt zwischen Schulleitung, Träger und Mitarbeitenden, er versucht, „den Laden am Laufen zu halten“, wie er selbst sagt – und glaubt dabei ganz fest an das System OGS.
„Ich sehe die OGS als Chancengeberin: Alle haben denselben Boden, auf dem sie starten können – ein warmes Mittagessen und Hilfe bei den Hausaufgaben.“ Immer wieder kämen Ehemalige vorbei, „aus denen etwas geworden ist, die beweisen, dass unsere Arbeit wichtig und erfolgreich ist“. Doch der Anspruch an die eigene Arbeit erscheine allzu oft in deutlichem Kontrast zu den Rahmenbedingungen vor Ort. „Wir stehen auf dem Abstellgleis.“


Wir kommen gerne hierher und stecken all unsere Liebe in diese Kinder.
Fehlende Räume, niedriger Stundenlohn, keine Option auf Vollzeit – attraktive Arbeit geht anders
Allein das Schulgebäude, erbaut in den 1970er-Jahren, kann den gewachsenen Anforderungen des laufenden Betriebs nicht mehr gerecht werden. Es fehlen Umkleiden, Büros und Toiletten; viele Klassenräume müssen nachmittags auch als Spielzimmer für die OGS dienen. „Da sind Konflikte vorprogrammiert“, sagt Marcel Wilmes. Auch in Küche und Mensa ist viel zu wenig Platz. „Vorgesehen ist eine familienähnliche Ess-Situation – aber dafür haben wir keine Kapazitäten.“
Stattdessen müssen die Kinder ihre Mittagsmahlzeit in vier Schichten zu sich nehmen; die letzte Gruppe verlässt den Saal erst um 14.50 Uhr. „Diese Kinder müssen wir vorher mit Snacks am Leben halten, weil sie seit dem Frühstück nichts gegessen haben.“ Schon seit Langem sei man im Gespräch mit der Stadtverwaltung, um die räumliche Situation zu verbessern. „Doch leider haben immer andere Schulbauprojekte Vorrang.“
Auch die finanzielle Situation des Ganztagsbetriebs bereitet Marcel Wilmes Sorgen. Nicht nur, dass Schule und OGS von zwei Ministerien mit unterschiedlichen Förderrichtlinien betreut würden. „Unsere finanzielle Förderung wird auch von Jahr zu Jahr neu berechnet – das macht es schwierig, gut zu haushalten.“ Um über die Runden zu kommen, müssten die Personalkosten immer so gering wie möglich gehalten werden. Für die Beschäftigten bedeutet das neben einem niedrigen Stundenlohn auch eine maximale Wochenarbeitszeit von 20 bis 24 Stunden.
„Wir arbeiten dann phasenweise mit Zusatzverträgen, die nur ein Schuljahr gelten – doch das produziert einen hohen Verwaltungsaufwand und ist auch für die Mitarbeitenden sehr belastend.“ Denn die Arbeit im Offenen Ganztagsbetrieb sei ohnehin schon wenig attraktiv: „Es ist immer ein Teilzeitjob – und daher für viele mit guter Qualifikation nicht interessant.“ Viele Kolleg*innen seien ohne Berufsausbildung oder im Studium und müssten einer zweiten Beschäftigung nachgehen, um ihre Miete zahlen zu können.






OGS-Beschäftigte unterstützen die Schüler*innen, in der Gesellschaft anzukommen
Das bestätigt Ina Zöhner, eine der langjährigen Mitarbeiterinnen in Marcel Wilmes Team. Seit 2008 kommt sie jeden Tag in die OGS. „Mein Mann ist Vollverdiener – nur deshalb kann ich mir den Luxus leisten, hier in Teilzeit zu arbeiten und fußläufig zur Arbeit zu kommen“, sagt sie. Ihr sowjetischer Abschluss als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache ist in Deutschland nicht anerkannt worden. Nun unterstützt sie die Grundschüler*innen ihres Stadtteils nicht nur bei den Hausaufgaben. Sie hilft ihnen vor allem, in der Gesellschaft anzukommen. „Hier an der Schule kommen viele Mentalitäten zusammen. Wenn diese Kinder später einen Beruf haben sollen, dann müssen sie lernen, sich anzupassen.“


Zeitmangel ist unser größtes Problem – gerade wegen des Schreibkrams, der nebenbei erledigt werden muss. Ich empfinde es als Gehetze ohne Ende.
Dafür arbeiten Ina Zöhner und ihre Kollegin Gjizeme Ramadini mit großem Engagement. Sie bringen die Kinder zum Mittagessen, begleiten sie in der Pause auf dem Schulhof, leisten Sprachförderung, weil viele weder Deutsch noch ihre Muttersprache richtig beherrschen. „Wir kommen gerne hierher und stecken all unsere Liebe in diese Kinder“, sagt Gjizeme Ramadini, die den Schüler*innen mit viel Wärme begegnet. Gerade streichelt sie einem Zweitklässler über den Kopf. „Geh jetzt deine Hausaufgaben machen. Kuscheln können wir später“, flüstert sie.
Dass die Frauen heute zu zweit in der Bärenklasse sein können, ist Luxus. Normalerweise arbeitet pro Gruppe eine Leitungskraft mit einer Ergänzungskraft zusammen. „In Krankheitsphasen kommt es auch vor, dass wir in jeder Gruppe nur eine Kraft haben“, sagt Ina Zöhner. Im Notfall müssten Gruppen sogar zusammengelegt werden, was die Belastung weiter steigere. Zeitmangel sei ihr größtes Problem – gerade wegen des Schreibkrams, der nebenbei erledigt werden müsse. „Ich empfinde es als Gehetze ohne Ende.“






Wer Chancengleichheit will, muss Qualitätsstandards in der OGS sichern
Und für die Zukunft sieht das OGS-Team noch mehr Schwierigkeiten auf sich zurollen. Aktuell belegen rund 70 Prozent der Schüler*innen einen OGS-Platz an der Gemeinschaftsgrundschule Europaring. „Wir haben viele Familien auf der Warteliste, aber ich weiß nicht, wie ich die Anfragen bedienen soll“, sagt Marcel Wilmes. Ab dem kommenden Schuljahr hat jede Familie einen Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung.
„Wenn wir den Qualitätsstandard halten wollen, den wir jetzt haben, dann muss sich grundlegend etwas ändern“, betont Igor Preuß. Nicht nur, dass sich die ohnehin angespannte räumliche Situation weiter zuspitzen werde. Auch die Suche nach Fachkräften für den OGS-Ausbau drohe zu scheitern. „Wir brauchen dringend mehr Fort- und Weiterbildungen, um auch Quereinsteiger*innen fachlich zu qualifizieren – und ihnen das Werkzeug zu geben, damit sie ihren Job gut machen können.“
Zugleich müsse die Finanzierung des Offenen Ganztags endlich auf solide Füße gestellt werden, fordert Marcel Wilmes, der auch den Ausschuss OGS der GEW NRW leitet. „Die aktuelle Situation schafft prekäre Beschäftigungsverhältnisse, gerade für Frauen. Nicht nur sie brauchen eine angemessene Vergütung für ihre Arbeit in der OGS.“ Denkbar sei etwa eine Erhöhung des Stundenlohns für langjährige Teammitglieder. Und auch alle anderen Mitarbeitenden bräuchten mehr Arbeitsstunden, um ihrer Dokumentationspflicht nachkommen und an Fortbildungen teilnehmen zu können. „Wir haben ausgerechnet, dass es 33 statt der aktuell üblichen 20 bis 24 Wochenstunden sein müssten.“
Die hohen bürokratischen Anforderungen, etwa im Bereich des Kinderschutzes, stellten zudem auch die Träger der Offenen Ganztagsbetreuung vor große Herausforderungen. „Wenn die Rahmenbedingungen nicht endlich gesetzlich geregelt werden, dann werden viele Träger aussterben“, betont Marcel Wilmes. Das bringe die Qualität der Betreuung einmal mehr in Gefahr – und lasse den Traum von Chancengleichheit endgültig in weite Ferne rücken.


Wir brauchen dringend mehr Fort- und Weiterbildungen, um auch Quereinsteiger*innen fachlich zu qualifizieren – und ihnen das Werkzeug zu geben, damit sie ihren Job gut machen können.