lautstark. 07.04.2025

Wie neutral muss Schule wirklich sein?

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Neutralitäts- und Mäßigungspflicht für an Schulen Beschäftigte

Gerade in einer Zeit, in der Rechtspopulisten „Remigration“ zu ihrem Parteiprogramm erklären und in der eine vom Verfassungsschutz in Teilen als rechtsextremistisch eingestufte Partei ihre menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Positionen vorantreibt, sind Lehrkräfte und andere pädagogische und sozialpädagogische Beschäftigte an Schulen verunsichert: Wie weit reicht die Neutralitäts- und Mäßigungspflicht, ohne dass disziplinarrechtliche Folgen zu befürchten sind? Und wie kann Schule bestmöglich ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllen?

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2025 | Zwischen Mangel und Qualität: Bildung braucht Stabilität
  • Autor*in: Maria Mattioli
  • Funktion: Expertin der GEW NRW für Rechtsschutz
Min.

Wo sind Neutralitäts-, Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot für verbeamtete sowie tarifbeschäftigte Lehrkräfte gesetzlich geregelt?

In § 33 Absatz 1 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) heißt es zum Neutralitätsgebot: „Beamtinnen und Beamte dienen dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Sie haben ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und ihr Amt zum Wohl der Allgemeinheit zu führen. Beamtinnen und Beamte müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten.“

In § 33 Absatz 2 BeamtStG heißt es zum Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot: „Beamtinnen und Beamte haben bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergibt.“ Für angestellte Lehrkräfte ergibt sich dies aus der allgemeinen arbeitsrechtlichen Treuepflicht nach § 242 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). 

Welche weiteren verfassungs-, dienst- und schulrechtlichen Vorgaben müssen Lehrkräfte beachten?

Lehrkräfte haben in ihrer täglichen Bildungsarbeit die verantwortungsvolle Aufgabe, zwischen Neutralitäts-, Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot und folgenden verfassungs-, dienst- und schulrechtlichen Rechtspositionen einen angemessenen Ausgleich zu finden:

  • Grund- und Menschenrechte, davon insbesondere nach folgende Artikel des Grundgesetzes (GG): Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1), Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1), Gleichbehandlungsgebot (Art. 3), positive und negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 3), Meinungsfreiheit (Art. 5), elterliches Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2) sowie Versammlungsfreiheit (Art. 8)
  • Staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG, Art. 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 11, Art. 12 Abs. 3 Landesverfassung NRW, § 2 und § 57 Abs. 1 Schulgesetz NRW)
  • Prinzip der Gleichbehandlung und Chancengleichheit der politischen Parteien (aus Art. 3, Art. 21, Art. 38 Abs. 1 GG)
  • Pflicht zur Verfassungstreue: Lehrkräfte haben die Pflicht, sich jederzeit mit ihrem gesamten Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 und § 33 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L). 

Was genau ist die von Lehrkräften zu schützende freiheitliche demokratische Grundordnung?

Das Bundesverfassungsgericht leitet  die freiheitliche demokratische Grundordnung  aus Artikel 1 und Artikel 20 GG ab. Diese zwei Artikel werden durch die Ewigkeitsklausel besonders geschützt (Art. 79 Abs. 3 GG) und dürfen nicht geändert werden –selbst mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag nicht. Die freiheitliche demokratische Grundordnung umfasst:

  • die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten weiteren unverletzlichen und unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte
  • das Demokratieprinzip
  • das Rechtsstaatsprinzip
  • die Gewaltenteilung und die Bindung aller drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) an Recht und Gesetz
  • die Überprüfung des Verwaltungshandelns und gesetzgeberischer Akte durch unabhängige Gerichte 

Verstoßen Lehrkräfte gegen das Neutralitätsgebot, wenn sie für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten?

Gerade angesichts der Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch in Teilen gesichert rechtsextreme Parteien ist vor falsch verstandener Neutralität zu warnen. Denn in derselben Vorschrift des Beamtenrechts, in der das Neutralitätsgebot geregelt ist (§ 33 Abs. 1 BeamtStG), steht, dass sich Beamt*innen durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung aktiv eintreten müssen.

Die Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten, ist bereits eine der Voraussetzungen, um überhaupt in das Beamtenverhältnis berufen zu werden (§ 7 Abs. 1 Nr. 7 BeamtStG). 

Für angestellte Lehrkräfte folgt dies aus ihrer allgemeinen Treuepflicht gegenüber dem öffentlichen Arbeitgeber (§ 242 Abs. 2 BGB) und aus den tarifvertraglichen Vorschriften (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L), die ebenfalls ein Bekenntnis der angestellten Lehrkräfte mit ihrem gesamten Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes vorsehen. 

 Die Landesverfassung verpflichtet speziell Lehrkräfte zur Erziehung ihrer Schüler*innen im Geiste der Demokratie und Freiheit unter Achtung der Menschenwürde und der religiös-weltanschaulichen Freiheit (Art. 7, Art. 8, Art. 11, Art. 12 LV NRW). Dieser schulische Erziehungs- und Bildungsauftrag wird im § 2 Schulgesetz NRW eindrucksvoll konkretisiert: 

Im Geist der Demokratie und Freiheit erziehen, die europäische Identität fördern, die eigene Meinung vertreten und die Meinung anderer achten, Offenheit, Verständnis und Toleranz gegenüber den Entscheidungen anderer wahren, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei begegnen, die ethnische, religiöse und sprachliche Identität der Schüler*innen fördern, die verfassungsrechtlichen Grundnormen verstehen und für Demokratie eintreten, sind nur einige Stichworte zu den Zielen schulischer Erziehung und Bildung. 

Lehrkräfte, die gegen verfassungsfeindliche, demokratiegefährdende und menschenverachtende Meinungen Position beziehen, verstoßen also nicht gegen ihre politische Neutralitätspflicht, sondern erfüllen gerade ihre Pflicht zur Verfassungstreue und ihren (verfassungs-)rechtlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. 

Es liegt also kein Verstoß gegen das Gebot der parteilichen Gleichbehandlung und Chancengleichheit nach Artikel 21 GG vor, wenn eine Lehrkraft entschieden gegen jede verfassungsfeindliche Position eintritt, unabhängig von der politischen Ausrichtung der Partei, die sie vertritt. Sollte dennoch einmal ein disziplinarrechtliches Verfahren eingeleitet werden, so erhalten Mitglieder der GEW NRW selbstverständlich umfassende rechtliche Unterstützung von der GEW-Landesrechtsstelle. 

Das gilt für andere pädagogische und sozialpädagogische Beschäftigte an Schulen

Nach § 58 SchulG NRW wirkt anderes pädagogisches und sozialpädagogisches Personal am schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag mit, das heißt, die Ausführungen zu Lehrkräften gelten für diesen Personenkreis entsprechend. So müssen auch andere pädagogische und sozialpädagogische Beschäftigte an Schulen im Rahmen ihrer Pflicht zur Neutralität und Verfassungstreue zum Beispiel bei verfassungsfeindlichem Verhalten von Schüler*innen einschreiten.

Dürfen sich Lehrkräfte im schulischen Kontext für oder gegen eine politische Partei aussprechen?

Lehrkräfte sollten sich im schulischen Kontext nicht einseitig für oder gegen eine bestimmte Partei aussprechen. Selbstverständlich darf aber im Rahmen der Behandlung verschiedener Parteien im Unterricht erwähnt werden, ob und gegebenenfalls wie eine Partei vom Verfassungsschutz eingestuft wird, dies beschreibt eine nachprüfbare Tatsache. Ebenso dürfen verfassungsfeindliche Positionen einer Partei auch als solche benannt werden. 

Wie sollen Lehrkräfte demokratische Werte vermitteln?

Lehrkräfte sollten gemäß dem schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach § 2 Schulgesetz NRW und den Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses die Schüler*innen dazu befähigen, nach Reflexion und Abwägung der Argumente in der politischen Auseinandersetzung sowie in weltanschaulichen und religiösen Fragen 

  • ihre eigene Meinung zu bilden und zu vertreten und dabei die Meinung, Weltanschauung und Religion anderer zu achten, soweit die grundlegenden Normen der Verfassung eingehalten werden,
  • Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen,
  • für ein diskriminierungsfreies Zusammenleben und für die freiheitliche Demokratie einzutreten.

Hierzu sollten den Schüler*innen zuvor die Grundelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufgezeigt und etwa anhand von Beispielen aus dem Alltag der Schüler*innen mit Leben gefüllt werden. 

Gleichzeitig ist es wichtig, den Schüler*innen Grundkompetenzen zur Bewertung von Inhalten zum Beispiel in sozialen Medien zu vermitteln und insbesondere Argumentationswege extremer Parteien und Strömungen aufzudecken. Auch können etwa die Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur eigenen Bewertung von parteilichen Äußerungen beziehungsweise Wahlprogrammen herangezogen werden. 

Was beinhaltet der Beutelsbacher Konsens?

Der Beutelsbacher Konsens wurde in den 1970er-Jahren entwickelt und fasst drei zentrale didaktische Leitgedanken politischer Bildung zusammen:

  • Überwältigungsverbot: Lehrkräfte dürfen ihre Schüler*innen nicht „überrumpeln“  oder einseitig beeinflussen, sondern müssen ihnen eine eigene Meinungsbildung ermöglichen.
  • Kontroversitätsgebot: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, muss auch im Unterricht aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.
  • Partizipation: Schüler*innen sollen befähigt werden, eine politische Situation und ihre Interessenlage zu analysieren, um sich ihre eigene Meinung zu bilden und Mittel und Wege zu finden diese gesellschaftspolitisch einzubringen. 

Werden diese Prinzipien ausreichend beachtet, kann grundsätzlich nicht von einer einseitigen Beeinflussung und damit von einer Verletzung des Gebots der politischen Neutralität, Mäßigung und Zurückhaltung ausgegangen werden. 

Wie sollen sich Lehrkräfte verhalten, wenn Schüler*innen verfassungsfeindliche Positionen vertreten?

Sollten Schüler*innen verfassungsfeindliche Positionen vertreten, die zum Beispiel antidemokratische, rassistische, extremistische oder antisemitische Äußerungen enthalten, ist dies nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dem muss die Lehrkraft aktiv entgegentreten und ohne Bloßstellung der jeweiligen Schüler*innen und unter Wahrung der pädagogischen Beziehung klar benennen, welche demokratischen Werte konkret auf dem Spiel stehen. Solche Äußerungen geben Anlass zu einer pädagogischen Reaktion oder dazu, das jeweilige Thema im Unterricht sachlich aufzugreifen und auf der Grundlage des Beutelsbacher Konsenses aus verschiedenen Blickwinkeln ausgewogen zu thematisieren.

Ebenso einschreiten müssen Lehrkräfte, wenn es sich nicht um eine Meinung, sondern um eine beleidigende oder diskriminierende Schmähkritik oder eine aus sonstigen Gründen grundsätzlich strafbare Äußerung handelt. Zu diesen gehören zum Beispiel Beleidigungen nach § 186 StGB, Zeigen von verbotenen Zeichen, Parolen und Symbolen nach §§ 86, 86a StGB wie der Hitlergruß oder Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer oder sonst verfassungswidriger Organisationen, Leugnung des Holocaust und sonstige Formen der Volksverhetzung nach § 130 StGB. Teilweise besteht hier Strafmündigkeit ab 14 Jahren, abhängig von individueller Reife und Einsichtsfähigkeit der Jugendlichen. 

Wie können Podiumsdiskussionen mit Parteien durchgeführt werden?

Podiumsdiskussionen unter Beteiligung von politischen Parteien sollten mit Schüler*innen immer gut vor- und nachbereitet werden. Dazu gehört die Vermittlung der Grundelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie die Auseinandersetzung mit Argumentationsweisen, insbesondere extremer Parteien. Zum Umgang mit der AfD gibt es unterschiedliche Meinungen. Speziell zur Frage des Teilnehmer*innenkreises bei Podiumsdiskussionen weist das NRW-Ministerium für Schule und Bildung auf Folgendes hin: „Es dürfen nicht nur Vertreter einzelner Parteien eingeladen werden, aber es besteht andererseits auch kein Anspruch jeder politischen Gruppierung auf Einladung.“

Das Oberverwaltungsgericht NRW hat jüngst zur Einstufung der AfD als vom Bundesverfassungsschutz zu beobachtender Verdachtsfall bestätigt, dass ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese Partei Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, insbesondere gegen das Demokratieprinzip und die Menschenwürde gerichtet sind (Urteile vom 13.05.2024 – 5 A 1216/22, 5 A 1217/22). Das zeigt sich insbesondere in der Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, in Äußerungen zur systematischen Ausgrenzung und Abwertung von Migrant*innen, in der Missachtung der Menschenwürde von Ausländer*innen und Muslim*innen, in der abwertenden Diskriminierung von Deutschen mit Migrationshintergrund und in demokratiefeindlichen Bestrebungen.

Die AfD muss nicht zu schulischen Podiumsdiskussionen eingeladen werden.

Vor diesem Hintergrund ist es der GEW NRW wichtig darauf hinzuweisen, dass die AfD nicht zu schulischen Podiumsdiskussionen eingeladen werden muss. Sollte sie jedoch eingeladen werden, so ist eine gute Vorbereitung und Moderation unerlässlich. Diese anspruchsvolle Aufgabe muss die Gewähr dafür bieten, dass keiner Partei eine Bühne für Fake News, pauschal diskriminierende oder andere offen verfassungsfeindliche Positionen geboten wird. 

In einem anschließenden Faktencheck sollten falsche Aussagen aufgedeckt werden. Das erklärte Ziel politischer Bildung in Schule ist es, Schüler*innen zu Mündigkeit zu befähigen. Nur mündige Schüler*innen werden sich auf der Grundlage der vermittelten Kompetenzen und einer guten Vor- und Nachbereitung von Podiumsdiskussionen eine eigene abgewogene Meinung bilden können.