Die Gertrudisschule ist umgeben von Wohnhäusern. Sie holt aus dem eingeschränkten Platz alles heraus, um ein gemütliches zweites Zuhause für ihre Schüler*innen zu sein. Viele kommen mit Fluchterfahrung hierher. Aus Afghanistan und dem Irak, aus dem Kosovo und Pakistan sowie seit einigen Monaten auch aus der Ukraine.
Anna erreichte mit ihrer Familie nur wenige Tage nach dem Beginn der russischen Angriffe auf ihr Heimatland Anfang März 2022 das Ruhrgebiet. Dort kamen sie in der Nachbarschaft der Gertrudisschule unter. Anna war das erste Kind aus der Ukraine, das Integrationslehrerin Yasmin Ruchotzke an der Grundschule willkommen hieß.
Begleitung für Familien mit Fluchterfahrung im deutschen Schulalltag
Yasmin Ruchotzke ist seit 2015 an der Schule und seit gut einem Jahr Integrationslehrerin mit einer vollen Stelle. Sie begleitet die Familien von Beginn an: „Hier kann es jeden Tag passieren, dass die Tür aufgeht und ein Kind integriert werden muss. Die Abläufe versuche ich gerade über alle vier Jahrgangsstufen hinweg zu strukturieren und im Schulentwicklungsplan festzuhalten.“ Das ist nicht immer einfach und in der normalen Arbeitszeit gar nicht zu schaffen. „Die Familien haben ganz individuelle Bedürfnisse. Wir helfen, wo wir können. Mittlerweile organisiere ich viel über mehrsprachige Chats auf dem Handy, das ich privat angeschafft habe.“
Insgesamt sieben Kinder aus der Ukraine sind seit Kriegsausbruch an die Wattenscheider Schule gekommen. Bisher sind alle geblieben. „Das ist nicht immer so“, erzählt Yasmin Ruchotzke. „Manchmal kommen Kinder von einem auf den anderen Tag nicht mehr zur Schule. Dann mussten ihre Familien in eine andere Flüchtlingsunterkunft umziehen oder haben im besten Fall eine passende Wohnung gefunden und der Schulweg zu uns ist zu weit geworden.“
Die geflüchteten Schüler*innen kommen als Seiteneinsteiger*innen im laufenden Schuljahr an die Schule; 27 Kinder werden aktuell hier unterrichtet. Sie kommen mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und die meisten nehmen die Unterstützung durch die Schule gerne an: „Ich fahre jeden Tag 40 Kilometer pro Strecke, aber die Dankbarkeit, die ich hier erfahre, ist es wert.“
Sprachbildung mit Sponsoring: Deutsch lernen mit Tablet und Hörstift
Mariia und Mylana gehen in die Klasse 3a. Sie sitzen im Trubel ihrer Mitschüler*innen konzentriert vor ihren Tablets und büffeln mit Kopfhörern in den Ohren deutsche Vokabeln. Seit sie aus der Ukraine nach Bochum geflohen sind, erfahren die Mädchen viel Aufmerksamkeit, auch medial. „Es ist nicht immer einfach, das den anderen Schüler*innen zu erklären. Für sie existiert kein Unterschied zwischen den ukrainischen Kindern und ihnen selbst. Hier wird jede*r in die Klassengemeinschaft aufgenommen. Die Kinder kennen das gar nicht anders“, erzählt die Integrationslehrerin.
Heute steht das landesweite Förderprogramm Kulturstrolche auf dem Stundenplan, das die Kinder ab Klasse 2 bis zum Übergang in die weiterführende Schule begleitet. Die Schüler*innen werden ans Geschichtenschreiben herangeführt; Zeitschriftenschnipsel sollen sie bei der Ideenfindung unterstützen. Mariia kann dem Projekt aufgrund der Sprachbarriere noch nicht gut folgen. Sie nimmt stattdessen den BOOKii-Hörstift in die Hand, der sie zusammen mit speziellen Materialien und Aufgaben beim Deutschlernen unterstützt.
Von den Hörstiften gibt es an der Schule momentan 30 Stück – finanziert von Sponsor*innen. „Wir versuchen, nochmal 20 Stück finanziert zu bekommen. Ohne Unterstützung könnten wir uns diese Lernhilfen gar nicht leisten“, weiß Schulleiterin Tanja Knopp. Die elektronischen Stifte können individuell besprochen werden. „Wir haben hier mit vielen Sprachen Erfahrung, aber Ukrainisch fehlt uns bisher“, erzählt Integrationslehrerin Yasmin Ruchotzke. „Wir sind aber auf einem guten Weg, das Deutschlernen für alle Kinder mit anderer Familiensprache so einfach wie möglich zu gestalten.“ Wenn die ukrainischen Kinder in der lateinischen Schrift alphabetisiert sind, dann meist auf Englisch. „Das heißt, ein E ist für sie ein I. Und den Unterschied im Deutschen müsste ihnen eigentlich jemand in ihrer Familiensprache erklären.“
Schulen sind bei Integrationsarbeit zu viel auf sich allein gestellt
Anna besucht die Klasse 3c. Ihre Mutter ist Lehrerin in der Ukraine und könnte diesen Job sofort übernehmen. Doch bürokratische Hürden stehen ihr im Weg: „Wir müssen eine bestimmte Anzahl ukrainischer Schüler*innen an der Schule haben, um eine solche Stelle finanziert zu bekommen“, weiß Yasmin Ruchotzke. An ehrenamtlichem Engagement mangelt es der Schule nicht, aber auch die ukrainischen Eltern möchten Deutsch lernen und müssen Geld verdienen. „So ein System kann ja nicht nur auf Ehrenamtliche setzen.
Ich sehe das so: Eigentlich müsste das Land den Schulen Stellen für Integrationsarbeit zuweisen und sie verpflichten, diese sinnvoll zu nutzen. Die Stelle für unsere Integrationslehrerin oder auch die für die Schulsozialarbeit müssen wir in einem ziemlich aufwendigen Verfahren beantragen, und die Verantwortung liegt damit wieder bei den Schulen und nicht bei der Politik. Das kann es ja nicht sein“, betont Schulleiterin Tanja Knopp.
Wattenscheider Schulen und Kommunales Integrationszentrum eng vernetzt
Für Familien mit Kindern, die nach Deutschland flüchten, geht der offizielle Weg an die Schule über die Kommunalen Integrationszentren (KI). Sie bekommen tagesaktuelle Zahlen über Geflüchtete von den Kommunen und übernehmen unter anderem die Verteilung der schulpflichtigen Kinder. Die Schulen wiederum melden ihre Platzkapazitäten einmal in der Woche an das KI. Die zuständige Sachbearbeiterin in Bochum steht im Zimmer des Schulteams der Gertrudisschule auf Kurzwahl: „Wir sind per Du und können den Schulbesuch für die Kinder oft auf dem kurzen Dienstweg schnellstmöglich organisieren.
Das ist wichtig, damit sie schnell ankommen und wir ihnen Halt geben können“, sagt Yasmin Ruchotzke. Familien, die in Wohneinrichtungen für Geflüchtete untergekommen sind, werden von Sozialarbeiter*innen betreut; andere erhalten Unterstützung durch private Gastgeber*innen. Eltern stehen auch schon mal überraschend auf dem Schulflur und erklären ihr Anliegen. „Die Schulen in Wattenscheid sind super vernetzt. Wir tauschen uns regelmäßig über freie Plätze aus und versuchen, es den Familien so einfach wie möglich zu machen“, sagt Schulleiterin Tanja Knopp.
„Für den Integrationsprozess ist es zum Beispiel wichtig, dass Geschwisterkinder an derselben Schule lernen können“, weiß Yasmin Ruchotzke. Sie begrüßt die Familien an der Gertrudisschule, macht mit ihnen den Papierkram im Sekretariat und führt Gespräche zusammen mit der Schulsozialarbeiterin, der Klassenleitung und den Kolleg*innen, die für die neuen Schüler*innen oder den Herkunftssprachlichen Unterricht zuständig sind. Alle Kinder bekommen ein Starterpaket mit gespendetem Schulmaterial und Informationen für die Eltern. „Für die ukrainischen Familien können wir auf Infoblätter vom KI Köln zurückgreifen, die das deutsche Schulsystem auf Russisch erklären. Zusätzlich habe ich eine Menge Material bebildert, sodass die Kinder und Eltern die Illustrationen als Stütze nutzen können.“
Logistische Herausforderungen und staatliche Fehlplanung
Die Klassen an der Gertrudisschule sind oft mit 31 Kindern besetzt. Das Schulgebäude ist klein, die Herausforderungen sind groß: „Ich möchte nichts beschönigen. Auch bei uns sitzen Kolleg*innen im Zimmer des Schulteams, sind geschafft und verzweifelt.“
Aus der dreizügigen Schule soll eine vierzügige werden, wenn es nach der Kommune ginge. Doch wohin mit den Schüler*innen? „Sie haben doch vor einiger Zeit einen Container erhalten“, zitiert Tanja Knopp aus einem Telefonat. Sie erwidert: „Sicher, darin ist auch immer noch eine zusätzliche Klasse untergebracht, die 2015 dringend gebraucht wurde.“ Die Kommune hatte nicht damit gerechnet, dass die nach Deutschland geflohenen Familien bleiben würden. Aus der Übergangslösung ist eine dauerhafte geworden.
Der knappe Raum ist eine Herausforderung für alle: „Die Kinder lernen vormittags im Klassenraum, essen dort nachmittags in der Ganztagsbetreuung, machen dort ihre Hausaufgaben und gestalten dort ihre Freizeit. Sie haben ebenso wenig wie das Kollegium einen echten Rückzugsort“, erzählt Tanja Knopp. „Und wenn 31 Kinder auf etwa 55 Quadratmetern zusammenkommen, kann es ganz schön laut werden. Die Empfehlung für Klassenräume liegt übrigens bei drei Quadratmetern pro Kind im Optimalfall.“
Deshalb hat die Schule mit Hilfe von Sponsor*innen Schallschutzkopfhörer angeschafft. Tanja Knopp ist eine Meisterin der Förderanträge. Die BASS (Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften) und ihre Möglichkeiten hat sie durchdrungen. „Ohne externe Geldgeber*innen und Spenden könnten wir den Kindern das alles kaum bieten. Es ist ein Unding, dass sich Schulen selbst darum bemühen müssen. Niemand sagt dir, was alles möglich ist, und niemand zeigt dir, wie du einen Förderantrag korrekt und zügig ausfüllst. Meine Erfahrungen im Ehrenamt beim Deutschen Roten Kreuz helfen mir unglaublich für meine Tätigkeiten an der Schule. Vieles davon wäre in meinen Augen aber eigentlich Aufgabe des Staates.“
An diesem Abend wird Tanja Knopp zusammen mit einem Kollegen in ein Kostüm schlüpfen, um bei einer Veranstaltung Unterstützer*innen aus der Bochumer Wirtschaft für die Schule zu gewinnen. Viele Unternehmen sind seit Kriegsausbruch in dem europäischen Land noch hilfsbereiter geworden. Unterschiede zwischen den Kindern möchten Tanja Knopp und Yasmin Ruchotzke keinesfalls machen. Im Familiengrundschulzentrum Gertrudisschule findet jedes Kind ein zweites Zuhause – ganz egal aus welchem Land es den Weg auf sich nehmen musste hierher nach Bochum-Wattenscheid.