„Hast Du mal ein paar Cent?“ Vor dem Dortmunder Hauptbahnhof ist es, vor allem am späten Nachmittag, schwierig dieser Frage auszuweichen. Oft sind es Mädchen, zumeist in kleinen Gruppen , die zum Betteln vorgeschickt werden. Im Hintergrund läuft nicht selten Musik. Ihr Outfit ist mal punkig, mal unauffällig mainstreamig. Häufiger ist es auch eher der Blick, der irritiert: ein Mix aus Angriff und Angst, Scham und Offensive. Selbstsicher wirkt hier kaum jemand, nur die Gruppe strahlt Stärke aus.
Der Alltag findet auf der Straße statt
Wer sind diese Jugendlichen? Und wie leben Sie? Umgangssprachlich werden sie oft als Straßenkinder bezeichnet. Im Gespräch erweist sich das schnell als zu oberflächlich. Zwar haben viele ihren Alltag auf die Straße verlegt. Draußen zu schlafen, ist jedoch nicht die Regel. Viele haben noch Kontakte zu wohnenden Jugendlichen, Einrichtungen und manchmal auch Notunterkünften. Die meisten suchen dort Schutz vor der Nacht, schlafen mal hier, mal da – mal gegen Bezahlung, mal ohne, Mädchen immer wieder auch gegen Sex.
Diese Jugendlichen waren eine von mehrere Zielgruppen einer großen Wohnungslosenstudie der Fachhochschule Dortmund vom Mai 2019. Einerseits wurden im Rahmen eines Aktionsforschungstages in Dortmund Wohnungs- und Obdachlose gezählt und andererseits – so gestattet – auch interviewt.
Das Zuhause nicht mehr ausgehalten
Die Lebenswelt dieser Kinder und Jugendlichen ist in weiten Teilen hart, von Gewalt und Angst geprägt, eng mit Drogenkonsum verbunden und vor allem fast nie freiwillig. Wichtig ist dabei, diese Lebensentscheidung als das Ende einer längeren Entwicklung zu sehen. Fast immer ist es eine Flucht vor der Lieblosigkeit, und nicht selten Gewalt, der Eltern. Die jüngsten Kinder sind erst etwa 11 bis 12 Jahre alt, Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren sind häufiger. Sie eint die Erfahrung, ihr früheres Zuhause nicht mehr ausgehalten zu haben. Die Gründe dafür sind in den Interviews vielschichtig und individuell. Einige fühlten sich, weit über das in der Pubertät sicherlich auch übliche Maß, überflüssig und störend, andere wurden geschlagen oder sexuell missbraucht. Von Liebe konnte keiner berichten – aber auch nicht von gefühlter Anerkennung und respektvoller Behandlung anderer Erwachsener, jenseits einiger professioneller Sozialarbeiter*innen, die sie auf der Straße kennengelernt haben. Viele fühlten sich von Schule und Ämtern auch nur objektiviert, zur Nummer degradiert, aber nicht als Subjekt gestärkt.
Cliquen auf der Straße sind sehr hierachisch
Auf der Straße suchen sie sich schnell Halt und Sicherheit in der Clique. Entgegen der äußeren Erscheinung sind diese oft nicht wild und hierarchiefrei – eher im Gegenteil. Viel häufiger gibt es klare Machtstrukturen, die nicht selten auch mittels Gewalt durchgesetzt und verteidigt werden. Manchmal ist es die Person mit der meisten Erfahrung, die führt. Manchmal auch schlicht die brutalste oder die Person, die den besten Zugang zu Drogen hat. Nicht alle Jugendlichen konsumieren dabei selbst. Trotzdem sind sie Teil ihres Alltags, immer in der Nähe, die Versuchung und Konsummöglichkeit immer nah. Ein „Nein“ scheint hier viel schwieriger durchzuhalten, als das schnell gesprochene „Ja“ – und sei es nur zur Mutprobe, zur Flucht oder zur Betäubung der Angst. Bei vielen Jugendlichen sind Drogen Teil des Alltags geworden – so selbstverständlich wie für andere die Dusche am Morgen.
Ambivalent ist das Verhältnis der interviewten Jugendlichen zur Schule. Für einige war sie bereits Vergangenheit, zum Teil trotz faktischer Schulpflicht. Andere hielten lose Kontakte zu einzelnen Personen, erschienen manchmal noch im Unterricht, häufiger aber nicht. Wieder andere verweigerten dazu jede Auskunft, lachten bei der Frage oder wehrten das Thema aggressiv ab. Deutlich wurde: Sie passen nicht in die gewünschten Systeme und wissen das sehr genau. In der Konsequenz entfernen sie sich dadurch vom Schulbetrieb. Einige erwarten von ihr auch nichts mehr – weder im Guten noch im Schlechten. Sie ist Teil einer Welt geworden, aus der sich die Jugendlichen ausgestoßen fühlen und zum Teil auch ausgestoßen wurden.
Sensibles Schulklima kann präventiv helfen
Trotzdem lohnt es sich, den Aspekt des Prozesses noch mal genauer zu beleuchten. Wie alle Jugendlichen sind auch diese auf der Suche nach Anerkennung, Respekt, Orientierung und zum Teil auch nach Schutz vor Gewalt und Missbrauch. Bevor sie ihren Lebensmittelpunkt auf die Lebenswelt Straße verlegen, senden sie zumeist verschiedene Warnsignale, hoffen auf Aufmerksamkeit, vertrauen sich oft Mitschüler*innen, seltener Sozialarbeiter*innen und noch seltener Lehrer*innen an. Ein Schulklima und eine Schulorganisation, die dafür sensibel sind, werden es den Jugendlichen leichter machen, nach Hilfe zu rufen und diese dann auch anzunehmen. Die Warnsignale selbst sind dabei aber indifferent: häufiges Fehlen, Vermeidung kurzer Kleidung wegen der Verletzungen oder auffallende Müdigkeit. Fast immer zeigt sich jedoch ein Leistungsabfall, nicht selten mittels offener Verweigerung oder aggressiver Abwehr von Seiten der Jugendlichen. An dieser Stelle des Prozesses ließe sich noch präventiv arbeiten. Ist der Lebensmittelpunkt jedoch erst auf die Straße verlegt worden, braucht es fast immer professionelle Soziale Arbeit als Anlauf- und Hilfestelle für diese Jugendlichen. Schule kommt dann zu spät und muss sich erst hinten wieder anstellen.