lautstark. 07.04.2025

Schock, Bundesligatabellen, Blackbox und viel zu tun

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25 Jahre nach der ersten PISA-Erhebung

Im Jahr 2000 wurden erstmals im Rahmen von PISA die Kompetenzen von 15-jährigen Schüler*innen erhoben und international verglichen. Ein Vierteljahrhundert später stellt sich die Frage: Ist PISA eine Erfolgsgeschichte oder nicht?

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2025 | Zwischen Mangel und Qualität: Bildung braucht Stabilität
  • Autor*in: Dr. Kenneth Rösen
  • Funktion: Experte der GEW NRW für Bildungs- und Schulpolitik
Min.

Will man beurteilen, ob es sich bei PISA um eine Erfolgsgeschichte handelt oder nicht, muss man zunächst die Indikatoren aufstellen, anhand derer eine Beurteilung überhaupt sinnvoll ist. Folgt man der Zielsetzung, die sich das PISA-Projekt laut Kultusministerkonferenz (KMK) gegeben hat, ging es PISA nie um mehr als „den teilnehmenden Staaten Indikatoren für Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften in Zeitreihe zur Verfügung zu stellen“. Zieht man diese Zielsetzung zur Evaluation heran, kann man nur sagen: Ziel erreicht. Bereits heute blicken wir auf acht verschiedene Berichtsbände und noch in 2025 folgt die nächste Erhebung. So weit, so unpolitisch. 

Vom Wiegen wird die Sau nicht fett: Wie politisch ist PISA?

Doch die Reaktionen auf die PISA-Ergebnisse führten nicht nur zum PISA-Schock wie bei ihrer ersten Veröffentlichung 2001, sondern die Ergebnisse werden auch regelmäßige zu Vergleichszwecken in eine Art Bundesligatabelle eingeordnet. Sie waren immer schon politisch. Doch das politische Interesse an PISA sollte nicht in den bloßen Ergebnissen liegen, vielmehr sollten auf deren Basis politische Beschlüsse gefasst werden, sollte politisches Handeln abgestimmt werden. „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett“, lautet eine häufig formulierte Kritik an PISA.

Blicken wir auf die offizielle Zielsetzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dann geht es ihr um nichts mehr als das Wiegen, lediglich um das Feststellen, ob die Sau fett ist oder nicht. Es geht ihr nicht um das Füttern, das obliegt nämlich der Bildungspolitik. Die Beurteilung von 25 Jahren PISA kann deshalb eigentlich nur eine Beurteilung von 25 Jahren Bildungspolitik nach PISA sein. Für diese Beurteilung kommen im Grunde nur zwei Fragen in Betracht: Erstens, welche Schlüsse hat die Bildungspolitik gezogen? Zweitens, haben sich die Kompetenzwerte verbessert?

Stochern im Nebel: Was hat zum Kompetenzabfall geführt?

Beginnen wir mit der zweiten Frage: Im Bereich Lesekompetenz (→ Grafik zu Lesekompetenz) haben sich die Ergebnisse bis zum Jahr 2015 stets verbessert, ab 2018 fallen die Kompetenzwerte ab, in der Messung von 2022 sogar auf den tiefsten Wert. Allerdings sind die Ergebnisse des Jahres 2022 nur bedingt aussagekräftig: Vor allem die Corona-Krise und die damit verbundenen Schulschließungen und Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens dürften maßgeblich Einfluss auf die Ergebnisse gehabt haben. Im Wesentlichen sind die Ergebnisse bis zum Jahr 2018 vergleichbar und zeigen bereits einen deutlichen Kompetenzabfall.

Auf die Frage, wieso es zu diesem Abfall gekommen ist, kann niemand mit absoluter Sicherheit eine Antwort geben: War es der Lehrkräftemangel? Waren es bildungspolitische Entscheidungen? War es die Digitalisierung? War es ein Bedeutungsverlust des Lesens angesichts digitaler Medien? War es alles zusammen oder doch etwas ganz anderes? Diese Frage zu beantworten, wäre wohl das Wichtigste, aber hier bleibt kaum mehr als das Stochern im Nebel. Und so lagen 2018 die Beurteilungen der PISA-Ergebnisse weit auseinander: Die GEW kritisierte, die Politik beschwichtigte – eine bekannte Rollenverteilung. 

Aber die genauen Ursachen für die schlechter werdenden Lesekompetenzwerte deutscher Schüler*innen bleiben unbekannt. Und genau darin besteht ein massives Problem der Output-Orientierung von PISA: Ihr geht es nur darum, was am Ende herauskommt. Alles, was vor dem Output passiert, mag zwar relevant sein, wird aber nicht erfasst. Pädagogische Arbeit sollte aber keine Blackbox sein, wenn Politik sich anmaßt, das Bildungssystem ausgehend vom Output zu steuern. Sinnvoll kann in Bildungspolitik und Bildungspraxis nur agiert werden, wenn die Ursachen für die schlechteren Kompetenzen lokalisiert werden – und sie liegen mit Sicherheit nicht (nur) im Bildungssystem, sondern müssen gesellschaftspolitisch verortet werden.

PISA belegt Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg – und die Politik?

Neben den Kompetenzwerten liefert die PISA-Studie inzwischen ebenfalls verlässlich folgendes Ergebnis: Der Bildungserfolg hängt in Deutschland in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab. Bereits im ersten Berichtsband hält das Deutsche PISA-Konsortium den skandalträchtigen Satz fest: „Kulturelles Engagement und kulturelle Entfaltung, Wertorientierung und politische Partizipation kovariieren über die gesamte Lebensspanne systematisch mit dem erreichten Bildungsniveau.“ Wenn der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt und die kulturelle Entfaltung und die politische Partizipation vom Bildungserfolg, dann hängen auch sie schlussendlich von der sozialen Herkunft ab. 

Die Klassenlage des Kindes und seiner Familie hat einen fundamentalen Einfluss auf die Bildungsbiografie und damit auf die gesamte Biografie der Kinder. Denn das erreichte Bildungsniveau wird zum Ausgangspunkt späterer Einschränkungen und Ausschließungen und greift damit grundsätzlich in die Chancen zur persönlichen Selbstverwirklichung und Subjektwerdung ein. Dieser Sachverhalt, der in der Bundesrepublik nicht erst, sondern spätestens seit PISA bekannt ist, steht demokratischen Grundsätzen wie Partizipation und Ermöglichung von subjektiver Entfaltung diametral gegenüber.

Misst man die Bildungspolitik daran, ob sie diesen Zusammenhang systematisch und strukturell bekämpft hat, dann muss man feststellen, dass sie nichts getan hat. An große Veränderungen hat sich die Politik nicht herangetraut. Angesichts der gravierenden Beschneidung von Lebenschancen aufgrund der sozialen Herkunft kommt hier ein Nichtstun der Ignoranz gegenüber individuellen Lebensläufen gleich. 

PISA und die Verantwortung der Bildungsgewerkschaft

Gewerkschaftspolitisch heißt das zum einen, dass man sich nicht an den aussageschwachen Bundesligavergleichen beteiligen soll. Die Systeme der Bundesländer sind so unterschiedlich wie die Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung, der Stadt-Land-Anteile und so weiter. Was soziologisch und sozialstrukturell kaum vergleichbar ist, sollte auch nicht allein anhand des Outputs verglichen werden – Gleiches gilt im Übrigen für Staatenvergleiche. Zum anderen heißt es, dass man mit PISA nicht nur die globalen und abstrakten Werte in den Blick nehmen sollte – denn wer weiß schon, ob der Abfall von 509 Kompetenzpunkten in 2015 auf 498 Punkte in 2018 viel oder wenig ist? Als Bildungsgewerkschaft müssen wir vielmehr weiter darauf aufmerksam machen, dass das Bildungssystem strukturell Kinder mit spezifischen sozialen Herkünften benachteiligt und die Politik handlungsunwillig zuschaut.

Und überhaupt stellt sich die Frage, ob die wichtigen Fragen nach Bildungsinhalten und -zielen durch PISA beantwortet werden (können). Auf welches Bildungsziel läuft PISA hinaus? Dass die OECD-Durchschnittwerte von 472 Punkten in Mathematik und Lesen und von 485 Punkten in Naturwissenschaften übertroffen werden? Ist es gute Bildung, wenn man über diesen Werten liegt? Will man ernsthaft sagen, ab x PISA-Punkten sei Bildung gelungen? Wohl kaum!  Wenn nun allerdings berechtigt bezweifelt wird, ob PISA-Punkte etwas über gute oder weniger gute Bildung aussagen können, dann wird deutlich: Die Output- und Kompetenzorientierung ist der falsche Weg für Bildungspolitik und -steuerung und für das, was die GEW NRW von Bildung erwartet.