Hauptschul- und Realschulabschlüsse sowie das Abitur – Weiterbildungskollegs bieten die Möglichkeit, alle Schulabschlüsse des ersten Bildungswegs nachzuholen. Doch wer nutzt die Chance auf den gewünschten Abschluss am Kolleg eigentlich? „Die Gründe, die Menschen auf den zweiten Bildungsweg führen, sind sehr unterschiedlich: Flucht, Migrationshintergrund, Sprachbarrieren, Jugendliche aus Arbeiterfamilien, psychische und soziale Probleme“, so Frauke Rütter, Expertin für Schulpolitik der GEW NRW.
Es sind Studierende – so werden die Schüler*innen an den Kollegs genannt – wie Nathanael Alamdari, der aus Iran nach Deutschland geflohen ist. „Ich habe in meinem Heimatland Architektur studiert. Aufgrund meines politischen Engagements wurde mir jedoch die Ausgabe meiner Zeugnisse verweigert. Für mich stand fest, dass ich meine Chance in Deutschland nutzen will und mein Abitur machen werde, um an einer Universität Medizin zu studieren. Im Sprachkurs bekam ich den Tipp, mich am Weiterbildungskolleg Riehl in Düsseldorf anzumelden“, erzählt der 39-Jährige. Auch Timo Herzfeld* bekam am Kolleg in Düsseldorf eine neue Chance auf einen höheren Abschluss.
„Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und hatte als Kind im klassischen Schulsystem keine Chance: Ich wurde sehr gemobbt und bin irgendwann gar nicht mehr zur Schule gegangen. Mir fehlte jede Orientierung. Dann ging ich zur Bundeswehr und erhielt in dieser Zeit mit 28 Jahren die Diagnose Asperger Autismus,“ erzählt der heute 36-Jährige. „Nachdem ich mich damit auseinandergesetzt hatte, fand ich neue Motivation und holte meinen Realschulabschluss an der Volkshochschule nach. Dort erfuhr ich vom Weiterbildungskolleg und habe mich entschieden, auch mein Abitur nachzuholen.“
An Erwachsenen ausgerichtetes Lernen und Begleitung zum persönlich bestmöglichen Erfolg
Lebens- und Bildungsbiografien wie die von Nathanael Alamdari und Timo Herzfeld führen dazu, dass die Studierendenschaft an Weiterbildungskollegs sehr heterogen ist – im Gegensatz zur Schüler*innenschaft des ersten Bildungswegs, wo im Laufe der Schuljahre eine eher homogene Gruppe von Schüler*innen mit ähnlicher Vorbildung entsteht. „Hinzu kommt, dass viele Studierende auf dem zweiten Bildungsweg in harten Jobs mit schlechter Bezahlung ihren Lebensunterhalt verdienen. Auf diese Umstände sind Weiterbildungskollegs eingestellt“, erklärt die GEW-Expertin Frauke Rütter.
„So ist das Lernen erwachsenengemäß und setzt ein hohes Maß an Eigenverantwortung der Studierenden voraus. Auch für Lehrkräfte ist der Umgang mit ihren Studierenden ein ganz anderer als an Schulen des ersten Bildungswegs. Der Fokus liegt stärker auf der individuellen Leistung, dem persönlich bestmöglichen Lernerfolg. Das bringt natürlich ganz eigene Herausforderungen mit sich, die es mit viel Sensibilität zu bewältigen gilt.“
Die Studierenden der Weiterbildungskollegs können nicht nur ihre Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbessern. Mehr Bildung ermöglicht ihnen auch mehr gesellschaftliche Teilhabe.
Vor allem für Studierende mit Fluchthintergrund ist das eine völlig neue Erfahrung: „Für mich war das Lernen am Weiterbildungskolleg eine ganz neue Welt: In Iran bestand Lernen aus Auswendiglernen, in Deutschland lief der Unterricht demokratisch ab und es wurde viel Wert auf Analyse und eigenes Denken gelegt“, erzählt Nathanael Alamdari. „Zudem habe ich anfangs sehr mit der deutschen Sprache gekämpft. Darauf wurde viel Rücksicht genommen und die Lehrer*innen haben im Zweifel versucht, mit Gesten zu kommunizieren.“
Auch Timo Herzfeld sieht große Unterschiede zu seinen Jahren auf einer Gesamtschule: „Der Kontakt zu den Lehrer*innen war von Anfang an sehr viel enger, als ich es in meiner ersten Schullaufbahn erlebt habe. Mir wurde immer Mut zugesprochen und ich wurde in schwierigen Situationen bestärkt, meinen Weg weiterzugehen. Auch heute pflege ich noch Kontakt mit einigen Lehrer*innen und kann mich mit Fragen an sie wenden.“
Weiterbildungskollegs kämpfen mit Vorurteilen
Wegen solcher Unterschiede entsteht immer wieder das Vorurteil, dass die Abschlüsse an Weiterbildungskollegs einfacher zu erwerben seien als beispielsweise auf einem Gymnasium. „Das ist meiner Erfahrung nach überhaupt nicht so“, berichtet Timo Herzfeld. „Den Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen, ist vielleicht sogar schwieriger – das zeigt sich ja auch an den Zahlen der Absolvent*innen, die am Ende ihr Abitur wirklich schaffen.
Ich bin zum Beispiel mit 30 Mitstudierenden gestartet, aber nur 15 haben bis zum Ende durchgehalten.“ Auch Frauke Rütter sieht das Vorurteil des „Abi light“ sehr kritisch: „Zum einen sind die Zielvorgaben an denen des ersten Bildungswegs orientiert und das Prüfungsniveau ist dasselbe. Und zum anderen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Menschen ihren Abschluss neben ihrem Berufsleben machen – das ist eine fordernde Situation, die viel Durchhaltevermögen verlangt“, erklärt sie.
Für die beiden ehemaligen Studierenden des Weiterbildungskollegs Riehl in Düsseldorf hat sich das Durchhalten gelohnt. Ihr Weg zeigt, welch wichtige Rolle der zweite Bildungsweg in NRW einnimmt: Nathanael Alamdari studiert heute im neunten Semester Zahnmedizin und freut sich darauf, bald als Zahnarzt in Deutschland arbeiten zu können. „Ohne die Möglichkeiten des Weiterbildungskollegs wäre ich heute nicht hier.
Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich diese zweite Chance für mich nutzen konnte.“ Auch Timo Herzfeld zog es nach dem Abitur zur Universität: „Ich studiere im zweiten Semester Jura an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Die nächste Herausforderung, der ich mich stellen werde, sind die Prüfungen. Danach würde ich gerne im Ausländer- oder Strafrecht arbeiten.“
Zweiter Bildungsweg fördert Chancengleichheit
Trotz dieser unbestritten wichtigen Position in der Bildungslandschaft kämpfen Weiterbildungskollegs seit Jahren mit sinkenden Anmeldezahlen – und mit dem Druck, die diesbezüglichen Zielvorgaben des Landes zu erfüllen. Aus Sicht der GEW NRW sind das Probleme, die sich mit stärkerem politischem Fokus auf diese Bildungseinrichtungen zumindest teilweise lösen lassen:
Nach Meinung der Expert*innen seien die Weiterbildungskollegs mit ihren Möglichkeiten viel zu unbekannt und es entstehe der Eindruck, dass der zweite Weg versteckt wird, weil er offenbare, dass der erste Weg so chancenungleich ist. „Sei es in kommunalen Integrationszentren oder im Jobcenter – die Berater*innen dort müssen aus unserer Sicht die Chancen, die an den Weiterbildungskollegs bestehen, als Option mitaufzeigen. Das zahlt auch auf die Anmeldezahlen und die Zielvorgaben des Landes ein“, erklärt Frauke Rütter.
Ohne die Möglichkeiten des Weiterbildungskollegs wäre ich heute nicht hier. Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich diese zweite Chance für mich nutzen konnte.
„Wir brauchen den zweiten Weg und die Zugangshürden müssen abgebaut werden. Die Studierenden der Weiterbildungskollegs können nach erfolgreichem Abschluss nicht nur ihre Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verbessern. Mehr Bildung und bessere formale Qualifikationen ermöglichen ihnen auch mehr gesellschaftliche Teilhabe – womit Chancengleichheit und Gerechtigkeit gefördert werden.
Sollten die Kollegs tatsächlich eines Tages aus der Bildungslandschaft verschwinden, verstärkt dies Chancenungleichheit und führt zu einer weiteren Verschlechterung auf dem Fachkräftemarkt.“ Die Fachgruppe Erwachsenenbildung der GEW NRW vernetzt sich, um den zweiten Bildungsweg und die Weiterbildungskollegs vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.