Im Interview erzählt Ralf Radke, Vorsitzender der LEiS NRW, wie verbindliche Grundschulgutachten zu bewerten sind und warum es insgesamt mehr Gesamtschulen in NRW geben muss.
Wie fällt Ihre Kritik an dem Vorstoß von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer aus, verbindliche Grundschulgutachten wiedereinzuführen?
Wir wissen aus Untersuchungen der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen aus dem Jahr 2010, dass die Schulformempfehlungen der Grundschulen im Vergleich zu den Noten, die sich auf den Zeugnissen der Schüler*innen in der Klasse 4 finden, eine hohe Unschärfe aufweisen.
Im Jahr 2010 ergab sich hinsichtlich der Gymnasial-, Realschul- und Hauptschulempfehlungen folgendes Bild: Schüler*innen mit Gymnasialempfehlung oder eingeschränkter Gymnasialempfehlung legten Zeugnisse vor, deren Kernfachschnitte innerhalb einer Spanne zwischen 1,0 und 3,9 lagen. Die Schnitte der Zeugnisse von Schüler*innen mit Realschulempfehlung oder eingeschränkter Realschulempfehlung verteilten sich auf die Spanne zwischen 1,7 und 4,2, eine harte Hauptschulempfehlung erhielten Schüler*innen mit Schnitten zwischen 2,2 und 4,8. Noten allein gaben offenbar nicht den Ausschlag. Die wissenschaftliche Diskussion zum Thema lässt auch aktuell erkennen, was noch eine Rolle spielen kann: der Sozialstatus und der damit verbundene Habitus der Familie, das Geschlecht und der Migrationsstatus.
In einer gemeinsamen Presseerklärung des Landeselternrates Gesamtschulen, der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule NRW und der Schulleitungsvereinigung aus dem Jahr 2010 stand: So „bestätigen die von der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen in NRW erhobenen Daten die Kritik am Wert der Prognosen der Grundschulen bezüglich der Schullaufbahnen und des Schulerfolgs ihrer Schülerinnen und Schüler in eindrucksvoller Weise. Damit sind aus unserer Sicht die Grundschulempfehlungen ein untaugliches Instrument für die Steuerung der Bildungswege der einzelnen Kinder“. Aus unserer Sicht ist dem auch 2018 nichts hinzuzufügen.
Welches Gewicht sollte aus der Sicht der Eltern die Einschätzung der Lehrkräfte haben?
Die derzeitige Regelung, die den Schulformempfehlungen einen beratenden Charakter zuweist, ist aus unserer Sicht vor dem Hintergrund der empirischen Belege die einzig sinnvolle. Will man Kinder unbedingt bereits am Ende der Klasse 4 selektieren, sollte man sich von prognostischen Aussagen über den Erfolg eines Kindes in einer bestimmten weiterführenden Schulform verabschieden. Man könnte dann nur eine Art Grundschulabitur einführen, unter dem die Schüler*innen und ihre Familien in Bayern seit Jahrzehnten leiden. Wer kann das wirklich wollen? Und wer wagt es, das für NRW zu fordern?
Wie sollte die Beratung für die richtige Schulform idealerweise aussehen?
Die rechtlich abgesicherte Praxis, Eltern immer auch die Gesamtschule beziehungsweise die Sekundarschule als geeignete Schulform vorzuschlagen, sollte von Seiten der Grundschullehrer*innen besonders ernst genommen werden. Nur diese Schulformen ermöglichen es den Schüler*innen, sich bis zum Ende der Sekundarstufe I zu entwickeln, ihre Stärken zu entdecken und auszubauen sowie den für sie bestmöglichen Schulabschluss zu erwerben.
Was wünschen Sie sich als Elternvertreter*innen von der Ministerin für den Übergang der Kinder in die Sekundarstufe I?
Ich wünsche mir die Sicherstellung einer bedarfsdeckenden Anzahl von Plätzen an den Gesamtschulen beziehungsweise Sekundarschulen vor Ort. Dass wie 2018 in Köln 900 Schüler*innen keinen Platz an einer Gesamtschule finden und die Stadt trotzdem lieber darüber nachdenkt, die Bauplätze für den Bau von Gymnasien zu verwenden, ist ein Skandal.