lautstark. 04.11.2024

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Wegweiser-Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus

Der Messerangriff in Solingen und der vereitelte Terroranschlag in München bringen den islamistischen Extremismus erneut in die öffentliche Diskussion. Wie lässt sich verhindern, dass junge Menschen in den Islamismus einsteigen? Mit dem Wegweiser-Programm bietet das Land NRW seit 2014 einen präventiven Ansatz. Er soll Jugendliche stärken und damit vor Radikalisierung schützen. Dabei können Schüler*innen und Fachkräfte gleichermaßen profitieren, wie ein Workshop-Besuch am Robert-Schmidt-Berufskolleg in Essen beweist.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2024 | Kinderrechte – Lasst uns mitreden!
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

„Für uns bringt das Wegweiser-Programm eine ganz neue Perspektive und jede Menge Sicherheit.“

Sich seiner Stärken bewusst sein, an sich glauben, Ziele verfolgen: Melanie* lässt keinen Zweifel daran, worauf es im Leben ankommt. „Man sollte die eigenen Schwächen nicht zu sehr in den Vordergrund rücken“, sagt die 37-Jährige und blickt ermutigend in die Runde. Die Islamwissenschaftlerin ist umringt von Jugendlichen. 21 Schüler*innen haben sich im Stuhlkreis um sie herum platziert und hören aufmerksam zu. In der Aula des Robert-Schmidt-Berufskollegs geht es an diesem Donnerstag um Identität – ein zentraler Bestandteil der Einführungswoche, die die 16- bis 18-Jährigen zum Start in die Höhere Handelsschule absolvieren.

Wer bin ich, woher komme ich, was möchte ich erreichen? Und wie kann ich lernen, mit Menschen umzugehen, die andere Eigenschaften und Lebensumstände haben als ich? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des 90-minütigen Workshops, den Melanie* als Mitarbeiterin des Wegweiser-Programms anbietet. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität sei der erste Teil eines mehrstufigen Prozesses, der sich in den höheren Jahrgängen mit weiteren Inhalten fortsetze. „In so kurzer Zeit kann ich nur einen kleinen Input geben“, sagt Melanie. „Aber es ist wichtig, dass die Schüler*innen mich kennenlernen und Berührungsängste abbauen.

*Name von der Redaktion geändert

Angebote der Wegweiser-Beratungsstelle richten sich an Fachkräfte, Eltern und Jugendliche

Eben hier setzt das Wegweiser-Programm an, das seit dem Start im Jahr 2014 immer weiter gewachsen ist. Derzeit bieten 24 Beratungsstellen in ganz NRW maßgeschneiderte Angebote für verschiedene Zielgruppen an. In Essen sind Melanie und ihr Kollege, ein ausgebildeter Sozialarbeiter, seit 2019 vor Ort. Ein wichtiger Baustein ihrer Arbeit sind Schulungen für Fachkräfte. „Darin zeigen wir den Unterschied zwischen Islam und Islamismus auf und erklären, wie eine Radikalisierung möglicherweise verlaufen könnte und woran man sie erkennen kann“, erzählt Melanie.

Neben Multiplikator*innen können sich aber auch Jugendliche und Angehörige mit ihren Anliegen an die Beratungsstelle wenden. Oftmals sorgen sich Eltern, dass ihr Kind in die extremistische Szene abrutschen könnte. Das Wegweiser-Team versucht dann einzuschätzen, ob die Sorge berechtigt ist, und spricht Handlungsempfehlungen aus. „Dabei möchten wir den Familien vermitteln, dass die Zusammenarbeit mit uns einen Mehrwert hat – zum Beispiel, dass es zu Hause wieder besser läuft“, erzählt Melanie. Ihre Klient*innen unterstützt sie auch bei Behördengängen oder stellt den Kontakt zu weiteren Institutionen, etwa Sportvereinen, her. Daraus entstünden teilweise langfristige Beziehungen. „Eine Klientin meldet sich schon seit 2019 bei mir, wenn sie Fragen zu religiösen Themen hat. Wir gehen dann zusammen Eis essen und quatschen darüber, was gut läuft und was nicht.“ So habe sie auch die Möglichkeit, Fake News aus den sozialen Netzwerken einzuordnen und für eine umsichtige Nutzung zu sensibilisieren.

Mir ist es wichtig, dass ihr den Schwächeren helft und niemanden ausgrenzt – und dass ihr versucht, die Eigenheiten der anderen zu respektieren.

Wegweiser-Expert*innen unterstützen bei der Einschätzung kritischer Situationen

Ähnliche Ziele verfolgt Yelda Tubay, die gerade zwischen den Tischreihen der Aula umherläuft. Die Schulsozialarbeiterin hilft den Jugendlichen, ihren Alltag in Form von Steckbriefen zu beschreiben. Noch vor wenigen Jahren sei es möglich gewesen, mit Schüler*innen über ihren Glauben ins Gespräch zu kommen und extremistische Ansichten zu identifizieren, sagt die freundliche junge Frau mit dem strahlenden Lächeln. Doch heute reagierten die meisten Jugendlichen zurückhaltend, wenn das Thema Religion zur Sprache komme. „Wir beobachten stattdessen, wie einzelne Schüler*innen auf dem Schulhof stehen und Regeln vorgeben, wie man sich als gute*r Gläubige*r zu verhalten hat. Das kann auf Kinder und Jugendliche, die noch in der Selbstfindung sind, sehr verunsichernd wirken – und es wirft auch für uns als Team viele Fragen auf.“ Von einer großen Unsicherheit berichtet auch Uwe Stach, wenn er rückblickend vom ersten Kontakt mit der Wegweiser-Beratungsstelle berichtet.

Der Schulleiter sitzt an einem langen Holztisch in seinem Büro. Inmitten von Kaffeetassen steht ein Glas mit bunten Flaggen aus Papier. Rund 50 Nationen kämen täglich in den Räumen des Robert-Schmidt-Berufskollegs zusammen, sagt Uwe Stach. „Da entstehen Konflikte, die wir nicht leugnen können – Thematiken, bei denen wir die Expertise anderer brauchen.“ So war es auch im vergangenen Jahr, als sich das Kollegium an die Beratungsstelle wandte und um Hilfe bat. Ein Schüler habe auffällige Verhaltensweisen gezeigt, die offensichtlich religiös motiviert waren, berichtet Uwe Stach: „Für uns war es sehr schwierig, zu unterscheiden, ob dabei tatsächlich extremistische Propaganda verbreitet wurde oder ob wir uns unnötig Sorgen machten.“ Seither ist Melanie in regelmäßigen Abständen in der Schule zu Gast, um mit Schüler*innen und dem Kollegium zu arbeiten. „Für uns bringt das eine ganz neue Perspektive und jede Menge Sicherheit“, betont Abteilungsleiterin Viola Linden, die sich von Beginn an maßgeblich um den Kontakt zum Wegweiser-Team bemüht hat. Der geschulte Blick von Fachleuten mache es leichter, kritische Situationen richtig einzuschätzen.

Für uns war es sehr schwierig zu unterscheiden, ob tatsächlich extremistische Propaganda verbreitet wurde oder ob wir uns unnötig Sorgen machten.

Damit möglichst wenig Grund zur Sorge entsteht, wirbt Melanie zum Abschluss des Workshops noch einmal für Toleranz. Die Jugendlichen stehen nebeneinander vor einer Wand, sie haben Zettel mit kleinen Steckbriefen in der Hand. Jede*r spielt nun die dort vorgegebene Rolle – etwa Christin, die alleinerziehende Mutter aus Deutschland, oder Ly, die in Vietnam schon mit zwölf Jahren im Laden ihres Vaters aushelfen muss. „Ich lese nun verschiedene Aussagen vor“, sagt Melanie, „und wer eine Aussage mit Ja beantworten kann, macht einen Schritt nach vorne.“ Lesen und schreiben, Sport und Hobbys nachgehen, eine gute medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können – diese Privilegien gelten nur für wenige, wie sich nach kurzer Zeit herausstellt. Einzelne Schüler*innen rücken weiter nach vorne, während das Gros ihrer Klassenkamerad*innen unverändert am Ausgangspunkt steht.

„Was ist das für ein Gefühl, wenn man merkt, dass man nicht mitkommt?“, fragt Melanie. „Das fühlt sich scheiße an“, sagt ein Junge und erntet zustimmendes Nicken. Melanie nimmt den Impuls direkt auf: „Mir ist es wichtig, dass ihr den Schwächeren helft und niemanden ausgrenzt – und dass ihr versucht, die Eigenheiten der anderen zu respektieren.“ Die Botschaft ist angekommen – das zeigt sich auch in den Rückmeldungen, die die Schüler*innen nach dem Workshop über ihr Handy abgeben. Sie loben die interessanten Aufgaben, die gute Arbeitsatmosphäre und die Chance, sich im Rollenspiel in andere hineinzuversetzen. Nicht nur deshalb wird Melanie schon bald wieder an die Schule kommen. Die Islamwissenschaftlerin ermutigt auch andere Bildungseinrichtungen, vom Wegweiser-Angebot zu profitieren. Denn am Ende gehe es nicht darum, Schulen und Schüler*innen zu stigmatisieren, sondern darum, gemeinsam Wege für ein friedliches Miteinander zu entwickeln. 

Wir beobachten, wie einzelne Schüler*innen auf dem Schulhof stehen und Regeln vorgeben, wie man sich als gute*r Gläubige*r zu verhalten hat. Das kann auf Kinder und Jugendliche, die noch in der Selbstfindung sind, sehr verunsichernd wirken – und es wirft auch für uns als Team viele Fragen auf.

Kontakt zu Wegweiser

Die Beratung der Wegweiser-Beratungsstellen erfolgt vertraulich und kostenlos, auf Wunsch auch anonym.

Wegweiser Essen
Website: essen.de/wegweiser
E-Mail: wegweiser[at]essen.de
Telefon: 0201 52325890

Wegweiser NRW
E-Mail: info[at]wegweiser.nrw.de
Hotline: 0211 8712728
Neben den Präsenzangeboten der Wegweiser-Standorte bietet Wegweiser auch eine anonyme, kostenlose und vertrauliche Chatberatung an. Hier sind tagsüber, in den Abendstunden sowie am Wochenende Berater*innen erreichbar.
Chatberatung von Wegweiser: wegweiser.nrw.de/online