lautstark. 03.02.2025

Lernen auf Deutsch, Italienisch und Türkisch

ChancengleichheitHSU – Herkunftssprachlicher UnterrichtMitbestimmungNachhaltigkeit

Landesprogramm fördert Mehrsprachigkeit in der Grundschule

Viele Kinder an nordrhein-westfälischen Grundschulen sind mehrsprachig. Ein Landesprogramm trägt dieser Tatsache Rechnung: 68 Schulen erproben ein Konzept, das neben Herkunftssprachlichem Unterricht (HSU) auch mehrsprachige Angebote für alle Schüler*innen vorsieht. Das fördert nicht nur den Bildungserfolg, sondern auch die Demokratie.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2025 | Sprache. Macht. Teilhabe.
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Die Farbkleckse auf dem Blatt sind jeweils dreireihig beschriftet. „Schwarz – Nero – Black“ ist da zu lesen oder „Rot – Rosso – Red“. Das Arbeitsblatt stellt Deutsch, Italienisch und Englisch gegenüber – nur ein Beispiel aus dem mehrsprachigen Unterricht, den die Grundschule Bogenstraße in Solingen seit dreieinhalb Jahren anbietet. Die Idee: Schüler*innen kommen mit möglichst vielen Sprachen in Berührung und erlangen dabei nicht nur ein tieferes sprachliches Verständnis. Sie lernen auch viel über unterschiedliche Werte und Lebensweisen – und entwickeln damit interkulturelle Kompetenz und Offenheit.

Solinger Grundschule nimmt an Landesprogramm teil und setzt die zwei Säulen des mehrsprachigen Unterrichts um

Das Vorgehen ist zentraler Bestandteil des NRW-Landesprogramms Grundschulbildung stärken durch HSU – Mehrsprachigkeit unterstützt den Bildungserfolg der Kinder. Die Grundschule Bogenstraße ist seit dem Projektstart am 1. August 2021 dabei. Inzwischen arbeiten landesweit 68 Schulen daran, neue Wege zur Förderung der Sprachbildung von Kindern und Jugendlichen zu finden. Die Umsetzung beruht auf zwei zentralen Säulen: Einerseits gibt es Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) für Schüler*innen aus Familien mit internationaler Familiengeschichte. Hier erlangen Kinder und Jugendliche grundlegende Kenntnisse in ihrer Herkunftssprache. Andererseits sieht das Landesprogramm vor, den Unterricht wo immer möglich mehrsprachig zu gestalten.

An der Grundschule Bogenstraße im Solinger Stadtteil Ohligs kommt das Programm rund 380 Kindern zugute. Der Stadtteil sei traditionell italienisch geprägt, erzählt Schulleiterin Nicole Wrana. „Doch inzwischen spielen auch viele andere Sprachen eine Rolle. Unsere Schüler*innenschaft ist sehr heterogen zusammengesetzt“, sagt die Lehrerin. Neben Italienisch seien etwa auch Türkisch und Polnisch als Herkunftssprachen vertreten. Viele Familien hätten ihre Wurzeln gleich in mehreren Kulturen. „In einigen Fällen ist Deutsch im Laufe der Zeit zur Familiensprache geworden, und die Kinder kommen kaum noch mit ihrer Herkunftssprache in Berührung“, sagt Ilaria Stocchi, die Herkunftssprachlichen Unterricht in Italienisch anbietet. Hier setzt der HSU an. „Neben der Vermittlung sprachlicher Kompetenzen geht es vor allem darum, den Kindern Klarheit über die eigene Herkunft zu vermitteln und zur Identitätsbildung beizutragen“, betont Nicole Wrana. Mit Blick auf Demokratiebildung und ein friedvolles Miteinander sei aber auch der mehrsprachige Unterricht von zentraler Bedeutung. Schon vorhandene Ansätze in beiden Bereichen habe man dank des Landesprogramms auf eine breitere konzeptionelle Basis stellen können.

HSU-Lehrkräfte gestalten verschiedene Fächer gemeinsam mit Klassen- und Fachlehrkräften

Seit dem Projektstart begleitet eine multiprofessionell besetzte Arbeitsgemeinschaft die Ausgestaltung des mehrsprachigen Unterrichts. Im Team arbeiten HSU-Lehrkräfte mit Grundschul- und Fachlehrer*innen zusammen. Für jeden Jahrgang gibt es eine verantwortliche Ansprechperson, die auch an den zentralen Fortbildungen des Landesprogramms teilnimmt. „Früher musste ich HSU an mehreren Schulen anbieten und war teilweise bis zum Abend unterwegs“, erinnert sich Ilaria Stocchi. Dank des Landesprogramms ist sie nun fest an der Grundschule Bogenstraße. Dort bereitet sie maßgeblich auch den mehrsprachigen Unterricht vor – ebenso wie ihre türkischsprachige HSU-Kollegin. „Dadurch sind wir viel besser in das Kollegium eingebunden, können beispielsweise auch an den Konferenzen teilnehmen. Das erleichtert die Zusammenarbeit.“

Der mehrsprachige Unterricht wird in den Fächern Deutsch, Mathe, Sachunterricht, Musik, Kunst und Sport jeweils in Doppelbesetzung angeboten: Eine HSU-Lehrkraft gestaltet ihn gemeinsam mit Klassen- und Fachlehrkräften. Dank der engen Kooperation kommen alle Schüler*innen im Laufe ihrer Grundschulzeit mit der Förderung in Berührung. Aktuell gibt es mehrsprachigen Unterricht im ersten und vierten Jahrgang – mit jeweils ein bis zwei Stunden pro Woche. Zusätzlich werden auch Schulprojekte, Vorlesewochen und Schulfeste mehrsprachig gestaltet. Dabei können neben Deutsch, Englisch und den Herkunftssprachen auch weitere Sprachen einfließen, mit denen die Schüler*innen in Kontakt kommen oder die sie interessieren – beispielsweise Japanisch oder Chinesisch. Die Themen und Methoden des mehrsprachigen Unterrichts sind breit gefächert. Wenn die Kinder etwa Begrüßungen in verschiedenen Sprachen kennenlernen, funktioniert das auf verschiedenen Ebenen: Mit Hilfe von Audiodateien können sie sich zunächst gängige Floskeln in verschiedenen Sprachen anhören.

Anschließend spielen sie Begrüßungsrituale aus verschiedenen Ländern szenisch nach. Und zuletzt gestalten sie bunte Handschablonen für die Klassentüren, auf denen die gelernten Begriffe gleich beim Eintreten zu lesen sind. Die besondere Art der Sprachförderung trägt Früchte – davon sind die beiden Lehrerinnen überzeugt. „Kinder mit internationaler Familiengeschichte erleben ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit, wenn ihre Herkunftssprache im Unterricht aufgenommen wird. Es motiviert sie, weiterzuarbeiten und sich zu integrieren“, betont Nicole Wrana. Langfristig ließe sich damit der Bildungserfolg verbessern. Und auch Kinder mit Förderbedarf profitierten in besonderem Maße von mehrsprachigen Angeboten, ergänzt Ilaria Stocchi: „Sie fühlen sich wohl und machen super mit, weil dieser Unterricht einen ganz neuen Start bietet. Alle fangen gleich an.“

GEW NRW fordert Verlängerung und Ausweitung des Landesprogramms sowie Verbesserung für HSU-Lehrkräfte

Auch Zülfü Gürbüz, ehrenamtlicher Experte der GEW NRW für den Herkunftssprachlichen Unterricht, sieht Mehrsprachigkeit als große Ressource: „Sie schafft wichtige Fähigkeiten in einer globalen Welt, in der Sprachen immer wichtiger werden.“ Kinder, die im Herkunftssprachlichen Unterricht mit ihrer Muttersprache vertraut würden, hätten auch einen besseren Zugang zu anderen Sprachen. „Fördert man diese Kompetenz nicht, besteht die Gefahr einer Halbsprachlichkeit. Betroffene Kinder sind dann weder in ihrer Muttersprache noch in Deutsch sicher“, sagt Zülfü Gürbüz, der auch im Leitungsteam des GEWLandesausschusses für Migration, Diversity und Antirassismus mitwirkt.

Bisher sei der Herkunftssprachliche Unterricht aber unzureichend im Regelsystem angekommen. Er werde überwiegend als freiwilliges Angebot am Nachmittag organisiert und sei daher kaum mit dem Regelunterricht verzahnt. „Am Ende kommen höchstens 20 Prozent der Schüler*innen, die vom HSU profitieren sollten, tatsächlich auch in den Genuss eines solchen Angebots.“ Auch die Situation der HSU-Lehrkräfte müsse dringend verbessert werden, betont Zülfü Gürbüz. Mit ihrer Expertise seien sie zugleich Vorbilder für die Kinder und Brücke zwischen Eltern und Schule. „Sie leisten eine hervorragende Arbeit für die Förderung der Mehrsprachigkeit und Integration in NRW. Gleichzeitig müssen sie jedoch oft nachmittags und abends in mehreren Schulen arbeiten, ohne Anschluss an ein Kollegium zu haben.“ Fachkräfte aus dem Ausland hätten zudem Schwierigkeiten, einen Weg in das deutsche Schulsystem zu finden.

„Ausländische Abschlüsse werden leider nur unzureichend anerkannt, und selbst wenn ausländische Lehrkräfte in Deutschland arbeiten können, sind die Rahmenbedingungen schlecht“, sagt Zülfü Gürbüz. „Sie werden nicht gerecht bezahlt, und es fehlen passgenaue berufsbegleitende Ausbildungsmaßnahmen, um mögliche Unterschiede in der Ausbildung auszugleichen.“ Hier sei das Landesprogramm zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachlichem Unterricht ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch brauche es weitere Maßnahmen, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen. „Wir fordern, dass das Programm verlängert wird und mehr Schulen daran teilnehmen können“, sagt Zülfü Gürbüz. Dafür müssten weitere Stellen für Lehrkräfte geschaffen werden. 

Teilnehmende Schulen bräuchten zudem mehr konzeptionelle Unterstützung und Begleitung, etwa durch das Ministerium für Schule und Bildung oder die Bezirksregierungen. Und nicht zuletzt müssten Entlastungsmöglichkeiten und weitere Fortbildungsangebote für die beteiligten Fachkräfte eingeführt werden. Für die Lehrer*innen der Grundschule Bogenstraße steht fest: Sie wollen weitermachen. „Ideal wäre eine Aufstockung der Ressourcen, sodass wir zwei Wochenstunden für den mehrsprachigen Unterricht fest im Stundenplan verankern können – und das in jedem Jahrgang“, sagt Nicole Wrana. Der natürliche Umgang mit Vielfalt schaffe ein besonders wertschätzendes Miteinander – nicht nur zwischen den Schüler*innen, sondern auch im Kollegium. Diese Art der lebendigen Demokratieförderung könne in der aktuellen Zeit gar nicht hoch genug geschätzt werden.