lautstark. 04.11.2024

UN-Konvention für die Rechte des Kindes

ChancengleichheitKinder- und JugendhilfeMitbestimmungNachhaltigkeitPolitische Bildung

Gehörtwerden ist nicht genug

Als die UN-Kinderrechtskonvention Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland in Kraft tritt, steht sie für ein neues Verständnis von kindlichem Leben und Erleben: Sie betrachtet Kinder als eigenständige Rechtsträger*innen und verändert damit grundlegend die Qualität von Erwachsenen-Kind-Beziehungen. Bis heute ist sie das wichtigste Instrument zur Umsetzung von Kinderrechten – eigentlich. Sozialpädagoge und Kindheitsforscher Professor Dr. Heinz Sünker über die (ungenutzten) Potenziale der Konvention.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2024 | Kinderrechte – Lasst uns mitreden!
  • Autor*in: Prof. Dr. Heinz Sünker
  • Funktion: Inhaber der Rudolf-Carnap-Senior-Professur an der Bergischen Universität Wuppertal
Min.

Die UN-Konvention für die Rechte des Kindes wurde 1989 beschlossen und trat 1992 in Deutschland – mit einigen Vorbehalten – in Kraft. Sie betrifft alle Kinder dieser Welt, ist also international gültig. Nur die USA und der Sudan haben sie nicht ratifiziert. Die Konvention schließt mit ihrer Berücksichtigung kindlicher Handlungsfähigkeit und sozialer Kompetenzen an die „neue“ Kindheitsforschung an, die sich seit dem Ende der 1980er-Jahre entwickelt, und trug dazu bei, dass ein neues Verständnis von Schutz, Versorgung und Partizipation im Leben und Erleben von Kindern verstärkt auch die pädagogische Praxis veränderte. Im Ansatz entscheidend ist ein Verständnis vom Kind als Rechtssubjekt, was die Qualität von Erwachsenen-Kind-Beziehungen sowie die kindliche Positionierung in Institutionen wesentlich verändert.

Ein neuer Blick auf Schutz, Versorgung und Partizipation im Leben und Erleben von Kindern

Schutz wird in der UN-Kinderrechtskonvention mit einem eher traditionalen Zugang zur Kindheitsthematik verknüpft, der um das Thema „Gewalt gegen Kinder“ in unterschiedlichen Erscheinungsformen zentriert ist. Eine Erweiterung sollte die Machtfrage im kindlichen Leben thematisieren: Denn indem Kinder innerhalb der machtorientierten generationalen Ordnung als defizitär eingestuft werden, geraten kindliches Wohlergehen und gelingendes Aufwachsen nur allzu schnell aus dem Blick. Versorgung vermittelt im Kontext westlich-kapitalistischer Gesellschaften die Themen „Sozialstaat und Gesellschaftspolitik“ sowie „öffentliche und private Erziehung und Bildung“. Hier bietet die UN-Kinderrechtskonvention Möglichkeiten, Kinderarmut und die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Bildungsinstitutionen offensiv in die Öffentlichkeit zu bringen.

Partizipation – mit der wesentlichen Unterscheidung zwischen einer Politik für Kinder und einer mit Kindern – wird in verschiedenen Artikeln der Konvention zum Element einer Politik, die von Kindheit an auf die Demokratisierung aller Lebensbereiche ausgerichtet werden kann: Es handelt sich auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Konstellationen der Vermittlung von Kinderleben und gesellschaftlichen Verhältnissen um Formulierungen, die sich zwischen dem Problem der Meinungsfreiheit und dem der Beteiligung an lebenswichtigen Entscheidungen – öffentlich wie privat – bewegen. Bildungsgewerkschaftlich besonders bedeutsam sind beteiligungspraktisch relevante Formulierungen, wie sie sich in den Artikeln 28 und 31 finden, in denen das Recht auf Bildung und die Zugangsmöglichkeiten sowie die Bedeutung der Teilnahme am künstlerischen und kulturellen Leben für Kinder betont werden.

Warten auf die Aufnahme ins Grundgesetz: Sackgasse für Kinderrechte?

Die Konvention kann ein entscheidendes Element zur Stärkung der Rechte von Kindern hinsichtlich eines gelingenden Aufwachsens in den oben genannten Bereichen sein; damit stellt sie eine entscheidende Herausforderung zur Demokratisierung für alle Institutionen des Kinderlebens und des Alltagslebens dar. Trotz der Kritik an ihrer mangelnden Radikalität, da sie wesentlich an Entwicklungsstufen orientiert ist, kann die Kinderrechtskonvention in einer offensiven Auslegung vor allem aus der Perspektive von Pädagogik, Sozialer Arbeit und Kinderpolitik als ein zivilisatorischer Fortschritt im Interesse der Kinder dieser Welt betrachtet werden, wenn die Verwirklichung dieser Programmatik vorangetrieben wird. Dies zu tun, erfordert eine Vermittlung von Rechten und Alltagsleben. Ohne Partizipation auf der Alltagsebene von Gesellschaft – also ohne Kinder in der Gesellschaft zu verankern und sie wertzuschätzen – werden Partizipationsmechanismen formalisiert, ihrer Gehalte entleert und für eine partizipatorische Demokratie faktisch bedeutungslos.

Dies ist meines Erachtens die entscheidende Differenz zwischen Sonntagsreden, in denen von Kindern als „unserer Zukunft“ – gemeint sind meistens die Rentenbeiträge – gehandelt wird, und einer realitätshaltigen Praxis in der Bundesrepublik, in der nicht einmal die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz bislang gelungen ist. Die politischen Widerstände, die sich gegen die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz richten, lassen sich verstehen als Ergebnis einer konservativen Ausrichtung, die den klassisch bürgerlichen Familien- und Unreife-Ideologien, einer naturalisierenden Sicht auf die Position von Kindern als Eigentum der Eltern verpflichtet ist. Damit geht es in der hegemonialen Auseinandersetzung um Demokratisierung oder Herrschaftssicherung immer auch um die Erkenntnis, dass der konservierende Zugriff auf die nachwachsende Generation im Rahmen von politischen Bildungsprozessen – und insbesondere ihrer Verhinderung – entscheidend ist.

Ohne Partizipation auf der Alltagsebene von Gesellschaft werden Partizipationsmechanismen formalisiert, ihrer Gehalte entleert und für eine partizipatorische Demokratie faktisch bedeutungslos.

Die nachwachsende Generation braucht emanzipatorisches politisches Bewusstsein

Um zu einer substanziell bedeutenden Änderung der generationalen Ordnung und damit der befreienden Sicht auf Kinder zu gelangen, um eine wirkliche partizipatorische Demokratie zu schaffen, geht es um mehr als ein „Gehörtwerden“ von Kindern als Mittel zur Beteiligung. Dies kann politisch – gerade angesichts der steigenden gesellschaftlichen Ungleichheiten von Klasse, Gender, Ethnizität und Generation – nur einen Anfang bilden, darf aber nicht zur Befriedungsstrategie verkommen. Denn wenn wir von den Bedingungen kindlichen Lebens und Erlebens unter gegenwärtigen Bedingungen sprechen, dann sind damit eben nicht allein materielle Bedingungen gemeint, sondern auch solche, die die Lebensweisen von Kindern insgesamt betreffen, also auch psychische, soziale und
kulturelle.

Es bleibt somit die Aufgabe, sich darüber zu verständigen, wie die gewaltig unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensweisen von Kindern heute – insbesondere zwischen Reich und Arm – mit Bezug auf Kinderrechte und Kinderpolitik einzuschätzen sind. Und es bleibt immer wieder zu fragen, welche Aufgaben sich daraus für Institutionen wie für Erwachsene, die Erwachsenengesellschaft insgesamt, ergeben. Wollen wir Kinderrechten gesellschaftlich und professionell in Bildungsarbeit aller Arten tatsächliches Gewicht verleihen, so beginnt dies mit der Erkenntnis, dass Partizipation ein performativer Akt ist, der sich in unserem gesellschaftlichen Handeln mit Kindern in unterschiedlichen Konstellationen verwirklicht. Die Hoffnung ist dann, an der Entstehung eines emanzipatorischen politischen Bewusstseins der nachwachsenden Generation – einer Vermittlung von Reflexivität, gesellschaftlicher Urteilskraft und politischer Handlungskompetenz – vor allem als Pädagog*in mitzuwirken.