Demokratische Bildung ist kein Nice-to-have, sondern basiert auf einem rechtlichen Rahmen. Wie sie umgesetzt werden soll, obliegt im föderalen System der Bundesrepublik allerdings der verfassungsgemäßen Zuständigkeit der Länder. „Die Bildungsprogramme für die Kindertagesbetreuung bleiben dabei oft abstrakt. Demokratiebildung wird als normativer Wert beschrieben. Doch was das für die pädagogische Praxis bedeutet, bleibt oft vage“, weiß Judith Durand, die als wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) die Studie Bildung und Demokratie mit den Jüngsten mit durchgeführt hat. Die Diplom-Pädagogin und ein Team aus Forschenden haben die Programme in sechs Bundesländern analysiert, Interviews geführt sowie den Kitaalltag in Videos festgehalten, um herauszufinden, wie es in der Kindertagesbetreuung um die Demokratiebildung bestellt ist.
Sozialgesetzbuch ist rechtliche Grundlage und UN-Kinderrechtskonvention wichtiger Bezugsrahmen
Ein wichtiger Bezugsrahmen seien die allgemeinen Menschenrechte und die UN-Kinderrechtskonvention: „Darin werden allgemeine Menschenrechte auf Kinder bezogen, die natürlich gleichwertig sind, aber im Vergleich zu Erwachsenen eigenständige Bedürfnisse und Bedarfe haben“, so Judith Durand. Die Konvention umzusetzen, sei jedoch eine Selbstverpflichtung der unterzeichnenden Länder. Ordnungspolitisch ist das Achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für die Demokratiebildung in der Kinder- und Jugendhilfe rechtliche Grundlage. „Dort wird in § 22 Absatz 3 auf nationaler Ebene demokratische Bildung abgesichert durch die Vermittlung grundlegender Sozialkompetenzen und durch die Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Angelegenheiten. Über § 45 ist die Betriebserlaubnis gar an die Sicherstellung von Beschwerdeverfahren für Kinder geknüpft“, so Judith Durand. Demokratie als Leitbild für die pädagogische Arbeit hat sich die Fröbel-Gruppe auf die Fahnen geschrieben: „Unsere Rahmenkonzeption bezieht die UN-Kinderrechtskonvention vollständig mit ein“, erzählt Fabian Spies, der dort als pädagogischer Fachberater tätig ist sowie als GEW-Mitglied in der Gewerkschaft vernetzt ist und bei der Setzung von Themen für den sozialpädagogischen Bereich unterstützt. „Die Rechte der Kinder, wie sie sehen, fühlen und handeln, sind dabei zentral. Wir verstehen uns als Vorreiter und setzen uns dafür ein, dass die Kinderrechtskonvention in das Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen wird. Das ist natürlich ein riesiges Vorhaben. Eine Zweidrittelmehrheit ist dafür nötig und noch immer gibt es politische Parteien, die dem im Weg stehen. Man muss sich das mal vorstellen: Erwachsene streiten darüber, ob die Rechte der Kinder etabliert werden sollen.“
Kinder sind Impulsgeber
Demokratie, Partizipation, Beteiligung und Teilhabe sind große Worte auf dem Papier. Wie aber werden sie in die pädagogische Praxis übersetzt? Zwei, die es wissen, sind die Kitaleiterinnen Delia Bornkessel und Nina Schachtschneider. „Vom Bringen bis zum Abholen bestimmen die Kinder in unserer Einrichtung über sich selbst und ihren Körper und dürfen in der Gemeinschaft mitentscheiden. Auch wenn die Kinder nicht sprechen können, beteiligen sie sich“, berichtet Delia Bornkessel, die die Energiezwerge in Mülheim an der Ruhr leitet. „Bei uns ist alles ein Angebot für die Kinder: Morgenkreis, Essenszeit, Schlafens zeit, Spielzeit. Kein Ultimatum. Es gibt immer Alternativen. Wenn viele Kinder an einem Angebot nicht teilnehmen möchten, ist das in Ordnung. Wir als pädagogische Fachkräfte sind gefragt, unser Angebot zu überdenken.“ Für viele Eltern und Kolleg*innen sei es anfangs befremdlich, dass die Kinder überall Mitspracherecht haben, weiß Nina Schachtschneider, Leiterin der Fröbel-Kita Zollvereinstraße in Essen: „Neue Kolleg*innen merken aber ganz schnell, wie viel Arbeitserleichterung das mit sich bringen kann. Wir sind nicht den ganzen Tag gefordert, Angebote zu machen. Es entsteht alles mit den Kindern; die Kinder sind die Impulsgeber für unsere Arbeit.“ Bei Fröbel entscheiden die Kinder beispielsweise mit, zu welchem Anlass, wann und wie ein Fest ausgerichtet wird und ob sie mit oder ohne ihre Eltern feiern möchten. „Die Eltern müssen sich daran gewöhnen, dass wir nicht ihr Bedürfnis befriedigen, sondern uns nach den Wünschen der Kinder richten. Wenn die Eltern einmal erleben, wie viel die Kinder aus dieser Selbstwirksamkeit ziehen, fördern sie das Ganze“, sagt Nina Schachtschneider.
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Wir müssen hinterfragen, mit welcher Begründung wir unsere Bedürfnisse über die der Kinder stellen. Die Kinder gehören in den Fokus unserer Arbeit – damit können wir uns alle auf den Weg zur Demokratie-Kita machen!
Formal-partizipative Angebote geben Kindern und Fachkräften Struktur
Fröbel setzt in der Kinderbetreuung auf die alltagsintegrierte Demokratiebildung und bedient sich immer dann formal-partizipativer Formate, wenn diese individuell zur Kita, zum Team und den Kindern passen: „In der Gesellschaft braucht es Regeln, aber diese werden demokratisch entschieden. Zumindest tun das diejenigen, die wir demokratisch gewählt haben. Die Kinder setzen den Rahmen, aber es gibt Bedingungen, die wir als Erwachsene vorgeben müssen, weil auch wir uns daran halten“, erläutert Nina Schachtschneider. Ein Beschwerdekasten und Gremien wie ein Kinderparlament sollen Demokratiebildung in der Kita formal absichern. „In der Studie sind uns höchst ausdifferenzierte Systeme begegnet mit Wahlen mehrerer Sprecher*innen, die wiederum unterschiedlich in Abstimmungsprozesse einbezogen werden“, berichtet Judith Durand. Bei den Energiezwergen in Mülheim wird einmal in der Woche eine Kinderkonferenz abgehalten. „Das Format hat sich bei uns bewährt“, sagt Delia Bornkessel. „Und wenn es für die Kinder nicht mehr funktioniert, dann ändern wir es wieder.
Das Wichtigste ist, den Kindern dabei auf Augenhöhe zu begegnen.“ Das habe auch viel mit Haltung zu tun, fügt ihre Kollegin hinzu. Die Alltagsdemokratie nimmt die Interaktion der Kinder untereinander und mit den Fachkräften in den Blick: Sind die Fachkräfte sensitiv und responsiv? Werden Situationen im Alltag genutzt, um demokratische Kompetenzen zu vermitteln, die nötig sind, um Demokratie zu gestalten? „Dazu zählen Perspektivübernahme, die eigene Meinung zu äußern, auch mal Bedürfnisse zurückzustellen, Kompromissfähigkeit und einiges mehr“, erklärt Judith Durand. „Es war spannend zu sehen, dass bei fast allen untersuchten Bildungsplänen der Fokus entweder auf formalen Strukturen liegt oder eher das Miteinander beschrieben wird. Lediglich einer der Pläne hebt die Bedeutsamkeit beider Formen hervor und unsere Forschung belegt, dass diese Kombination am wirksamsten ist.“ Deutlich würde das zum Beispiel, wenn Beteiligungsformate auf Chancengerechtigkeit und Inklusion hin überprüft würden. Es sei bedeutsam, die individuellen Situationen zu berücksichtigen: „Die Voraussetzungen von Kindern sind sehr unterschiedlich und nehmen Einfluss darauf, wie diese Situationen mitgestalten und an institutionell gerahmten Angeboten teilhaben können“, sagt Judith Durand. Das könne dazu führen, dass Kinder sich nicht selbstwirksam erleben oder sogar Exklusion erfahren.
Demokratische Werte in der Kita vermitteln: Ausbildung und Fortbildung sind gefragt
Bestmöglich ausgebildete Fachkräfte seien ein Hebel, um den Herausforderungen der Heterogenität in Kitas zu begegnen und demokratische Strukturen in der frühkindlichen Bildung zu etablieren, ist sich Fabian Spies sicher: „Längst nicht alle Kitas in NRW sind reif dafür. Es gibt viele Ängste in Bezug auf Diversität, Inklusion und in diesem Zusammenhang auch Partizipation. Keine Partei in NRW traut sich, das Kinderbildungsgesetz im Sinne der Kinder zu reformieren. Erzieher*innen haben deshalb oft Vorbehalte, den Kindern mehr Entscheidungsrechte zu geben, weil sie denken, dass die Kinder dann nicht das lernen, was der Bildungsplan ihnen vorgibt.“ In der Ausbildung würden viele Fachkräfte nicht ausreichend über die Rechte der Kinder erfahren. „Wir müssen dort anfangen, sie abzuholen und zu sensibilisieren“, fügt der Fachberater hinzu. Dafür sei eine spezielle Qualifikation nötig, die sicherstellt, dass pädagogische Fachkräfte das Handwerkszeug erhalten, mit dem sie demokratische Werte in der Kita vermitteln können.
„Denn die Demokratie, die wir mit den Kindern heute leben, ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft morgen stehen wird“, sagt Fabian Spies. In seinem Positionspapier definiert der Pädagoge Demokratie auch im historischen Kontext: „Nur wer diese Hintergründe kennt, kann auch demokratische Werte vermitteln“, meint er. „Ich präsentiere keine fertigen Produkte, sondern unterstütze die Kolleg*innen dabei, ihre individuellen Konzepte zu entwickeln.“ Dabei ginge es auch um praktische Fragen, wie die Gestaltung der Räumlichkeiten oder die Einbindung der Eltern. „Kinder lernen sehr schnell, dass sie Rechte haben, und fordern diese auch zu Hause ein. Sie erleben, dass sie auch große Veränderungen ins Rollen bringen können und wollen dann natürlich nicht mehr zurückrudern. Deshalb ist es wichtig, immer wieder das Gespräch mit den Eltern zu suchen“, sagt Nina Schachtschneider.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Auseinandersetzung mit Werten, Orientierung und Selbstreflexion eine zentrale Aufgabe, die in allen Formen der Aus-, Fort- und Weiterbildung thematisiert werden müsse. „In den Interviews für die Studie haben einzelne Fachkräfte formuliert, sie trauten sich nicht, ihre Meinung und auch Zweifel zu formulieren. Diese Aussagen haben uns sehr beschäftigt“, so Judith Durand. Das sei ein wenig die Krux: „Demokratie ist ein normativer Wert, für den wir eintreten müssen. Gleichzeitig muss es gelingen, nicht die Menschen zu verlieren, die verunsichert sind. Wir brauchen eine Diskurskultur, die unterschiedliche Positionen zulässt“, sagt die Diplom-Pädagogin. Deshalb sei ein fortlaufender Austausch mit allen Beteiligten in der Kita so wichtig, wissen Nina Schachtschneider, Delia Bornkessel und Fabian Spies. Fröbel geht hier mit gutem Beispiel voran: „Demokratiebildung ist Teamsache. Alle werden dabei mitgenommen.“
* Friedrich Wilhelm August Fröbel war ein deutscher Pädagoge. Fröbel-Einrichtungen haben in ihrem Leitbild festgeschrieben, den pädagogischen Alltag an den Rechten der Kinder auszurichten.