Gesellschaft 25.09.2024

„Das ist autoritärer Nationalradikalismus“

AntirassismusPolitische Bildung
  • im Interview: Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer
  • Funktion: Senior-Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld
  • Interview von: Martin Hummelried
  • Funktion: freier Journalist

Warum die AfD mehr als rechtspopulistisch ist

„Die AfD als rechtspopulistisch zu bezeichnen, wäre völlig verharmlosend“, sagt Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer. Im Interview erklärt der Soziologe, warum der "autoritäre Nationalradikalismus“ der AfD besonders problematisch ist, welche Auswirkung er auf unser Bildungssystem hat und was Schule leisten kann, um junge Menschen gegen rassistische Hetze und Demokratiefeindlichkeit zu stärken.

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Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer ist renommierter Gewalt- und Rechtsextremismusforscher und Senior-Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Herr Heitmeyer, die AfD erfährt erschreckend viel Zuspruch gerade auch bei jungen Menschen. Warum ist Rechtspopulismus derzeit so erfolgreich?

Wilhelm Heitmeyer: Ich fürchte, der Blick auf den Rechtspopulismus reicht nicht aus. Rechtspopulismus zielt darauf, kurzzeitige Erregungszustände in der Bevölkerung zu verbreiten. Insofern sind Menschen wie Herr Aiwanger und teilweise auch Herr Merz ein Teil des rechtspopulistischen Problems. Gleichzeitig ist klar: Die wollen keinen Systemwechsel, sondern nur kurzzeitige Erregungszustände. Die AfD als rechtspopulistisch zu bezeichnen, wäre dagegen völlig verharmlosend.

Warum?

Wilhelm Heitmeyer: Die AfD ist intelligent und vermeidet viele Dinge, die allzu sehr nach Rechtsextremismus aussehen. Ich habe mir seit 2018 deren Erfolge angesehen. Meine These ist: Wir haben es bei der AfD mit einem autoritären Nationalradikalismus zu tun. Dieser autoritäre Nationalradikalismus will vor allem in die gesellschaftlichen Institutionen eindringen, um von innen heraus einen Systemwechsel herbeizuführen. Und zwar schleichend – nicht mit einem Umsturz, nicht mit Gewalt, sondern viel intelligenter. Genau das aber macht es so schwierig, sich dagegen zu wehren. 

Was macht diesen autoritären Nationalradikalismus aus?

Wilhelm Heitmeyer: Das Autoritäre zielt auf ein Gesellschaftsmodell, in dem vor allem traditionelle Kultur, traditionelle Lebensweisen, Geschlechterrollen eine dominierende Rolle spielen. Dazu gehört die Ausgrenzung sexueller Vielfalt und vor allem die ethnische Homogenität. Das richtet sich gegen all das, was unter dem Begriff Vielfalt läuft. Das Nationalistische zeigt sich dann in der Überlegenheit der deutschen Kultur, gekoppelt mit einer Untergangsrhetorik, die vor allem von Herrn Höcke gepflegt wird. Das ist Identitätspolitik als Ausgrenzung, es geht vor allem um das Deutschsein als Identität. Ein Element ist dabei die Neudeutung deutscher Geschichte samt Relativierung der NS-Zeit.

Warum gelingt das der AfD so gut?

Wilhelm Heitmeyer: Es gibt die These, dass die Traumata der NS-Vergangenheit nach drei Generationen einfach verblassen. Das hat Folgen für die Schulen, weil wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass diese Art von historischer Bildung tatsächlich noch eine wichtige Rolle für die Persönlichkeitsbildung spielt. Zusätzlich gibt es dieses für manche sehr attraktiv erscheinende Element des Radikalen: diese außerordentliche Aggressivität in der Kommunikation der AfD. Das ist durchzogen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, von der Abwertung und Diskriminierung bestimmter Gruppen: Asylbewerber, Geflüchtete, Juden, Migranten, Frauen. Das verbreitet die AfD sehr erfolgreich insbesondere im Netz an jüngere Menschen, vor allem an junge Männer. Sie ist eindeutig die modernste digitale Partei in Deutschland. Die anderen Parteien haben diese Zeit völlig verpennt. Und das rächt sich dramatisch.

Wie kann man dagegenhalten?

Wilhelm Heitmeyer: Bei der Digitalisierung der Parteien kann ich nicht erkennen, dass dort überhaupt eine Chance besteht. So bitter das klingt: Eine nachholende Aufarbeitung wird nicht gelingen. Manche Auftritte der etablierten Parteien sind geradezu peinlich. Das alles hat dann auch Folgen für das veränderte Wahlverhalten in der jungen Generation. 

Welche Rolle kann Schule hier spielen?

Wilhelm Heitmeyer: Man muss sich klar machen: Das zentrale Ziel der AfD ist ein Systemwechsel. Es geht um die Delegitimierung und Destabilisierung von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen - von der Justiz über die Kultureinrichtungen, die Gewerkschaften und verschiedene Verbände, Bauernverbände zum Beispiel, die Polizei, die Bundeswehr. Und natürlich hat die AfD auch die Schulen im Visier. 

Sie sprechen von den Meldeportalen, bei denen Lehrkräfte denunziert werden können...

Wilhelm Heitmeyer: Unter anderem. Diese Portale sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie gezielt Verunsicherung in die Schulen hineingetragen wird, wie die Institution Schule erschüttert und delegitimiert wird. In solchen Situationen kommt es ganz stark auf die Schulleitungen an: Wie agieren die innerhalb des Kollegiums und wie in der Öffentlichkeit? Und, zweitens: Wie konfliktfähig sind die Lehrerinnen und Lehrer? Das geht uns übrigens alle an: Bin ich bereit, konfliktfähig in meinem sozialen Umfeld aufzutreten? 

FAQ

Meldeportale der AfD

Sind die Meldeplattformen der AfD überhaupt zulässig? Was passiert, wenn ich auf einem Portal der AfD gemeldet werde und wo kann ich mich beraten lassen? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den Meldeplattformen der AfD hat die GEW zusammengefasst. Hier findest du auch Hintergrundinfos, gesetzliche Grundlagen für die poltische Bildung und alles, was du über die Denunziationsportale wissen solltest. 

Was kann, was müsste in Schulen passieren?

Wilhelm Heitmeyer: Wir müssen uns die Frage stellen: Wie machen wir unsere Kinder und Jugendliche über schulische Bildung konfliktfähig? Da geht es oft gar nicht mehr allein um die Inhalte, sondern es geht an vielen Stellen um die Gruppendynamik, die durchbrochen werden muss. Offensichtlich gilt das Artikulieren rechter Parolen mittlerweile als Statussymbol. Ich halte mehrere Aspekte für wichtig. Erstens, wir müssen über das immer noch dominierende Paradigma der Schule reden: Sollten wir nicht besser nach Stärken suchen, als Schwächen in den Mittelpunkt zu stellen? Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung in den Klassenzimmern. Denn es ist doch klar: Wenn ich in manchen Bereichen keine Anerkennung finde, dann suche ich mir Felder, wo ich diese Anerkennung bekomme - und bei jungen Männern ist das an vielen Stellen schlicht die Gewalt. 

Was zählt noch?

Wilhelm Heitmeyer: Die Fähigkeit zur Empathie. Daran müssen wir arbeiten. Kann ich mich überhaupt in den anderen hineinversetzen und dadurch Diskussion über strittige Fragen führen? Leider beobachten wir, auch wissenschaftlich bestätigt, dass die Fähigkeit zur Empathie immer weiter zurückgeht. Das hat dann auch mit dem nächsten Punkt zu tun.

Nämlich?

Wilhelm Heitmeyer: Das ist die schon angeschnittene Frage, ob ich überhaupt interventionsfähig bin, wenn solche Themen der Hetze, der Abwertung, der Diskriminierung in den nahen sozialen Bezugsgruppen geäußert werden. Wenn in der Familie, im Verein oder der Klasse gehetzt wird - bin ich dann in der Lage, zu intervenieren? Soziologisch betrachtet: Bin ich bereit, die sozialen Kosten des möglichen Ausschlusses aus der Gruppe, die mir wichtig ist, zu tragen? Das gilt natürlich auch für die Schülerinnen und Schüler und im Hinblick auf den Gruppenzusammenhang – für Kinder und Jugendliche ist Zugehörigkeit ein ganz wichtiges Element. Und dann ist da natürlich noch die Ausweitung des Sagbaren: dass immer neue Begriffe wie „Umvolkung“ und „Bevölkerungsaustausch“ in den normalen Diskurs eingeführt werden. Das ist ein Mechanismus, der sehr erfolgreich ist, diese Normalisierung und Umdeutung von Begriffen. Nehmen Sie das Beispiel „Remigration“: Das ist ursprünglich ein harmloser Begriff aus der Migrationsforschung für die freiwillige Rückkehr von Migranten, weil sich die Situation im Herkunftsland deutlich verbessert hat. Der Begriff wurde von den Rechten regelrecht gekapert.

Viele Lehrer*innen würden gerne dagegenhalten, aber argumentieren mit dem Neutralitätsgebot und dem Beutelsbacher Konsens.

Wilhelm Heitmeyer: Wichtig wäre, sich erst einmal im Kollegium über die gemeinsame, pro-demokratische Position zu verständigen. Es gibt, völlig zurecht, das Überwältigungsverbot. Aber der zweite Punkt beim Beutelsbacher Konsens ist ebenfalls sehr wichtig: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, muss auch im Unterricht kontrovers thematisiert werden. Dem müssen sich Lehrpersonen stellen. Und der dritte Punkt ist natürlich: Schüler und Schülerinnen müssen zu einer eigenständigen Position gebracht werden. Und dazu gehört meines Erachtens auch, die Mechanismen zu erkennen, mit denen die Rechten und Rechtsextremen vorgehen. Dabei darf man allerdings eins nicht vergessen: Belehrungen kommen gegen Erfahrungen nicht an. Das gilt für die Schule, das gilt für die Demokratie insgesamt. Demokratie muss deshalb in Schule erlebt, Konfliktfähigkeit muss eingeübt werden.

Das fordert die GEW NRW

Bildung sicher: Demokratie stärken!

Auch bei unserer GEW-aktiv-Tagung im September unter dem Motto "Bildung sichern: Demokratie stärken!" thematisierte der Gewalt- und Extremismusforscher Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer die Herausforderungen des autoritären Nationalradikalismus für die liberale Demokratie und die schulische Bildung. Unsere Vorsitzende Ayla Çelik machte dort erneut die Mission der GEW NRW deutlich: „Wir machen uns für eine Bildungspolitik stark, die demokratische Bildung ins Zentrum stellt und Schulen die Werkzeuge an die Hand gibt, die sie brauchen, um unsere Kinder zu mündigen Bürger*innen zu machen. Schule ist kein politisch neutraler Ort - Schule ist ein durch und durch parteiischer Ort. Parteiisch für unsere Demokratie!“