lautstark. 28.06.2024

Zweiter Bildungsweg: Wertschätzung und Initiativen

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GEW NRW fordert Masterplan für den Zweiten Bildungsweg

Der Zweite Bildungsweg bietet Chancen für einen Neustart sowie zur beruflichen Weiterentwicklung, ist jedoch viel zu wenig bekannt und wird gesellschaftlich zu gering geschätzt. Das muss sich aus Sicht der GEW NRW ändern.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2024 | Wie Übergänge gelingen
  • Autor*in: Florian Beer
  • Funktion: Ehrenamtlicher Experte der GEW NRW für Erwachsenenbildung
  • Autor*in: Harald Pietzsch
  • Funktion: Ehrenamtlicher Experte der GEW NRW für Erwachsenenbildung
Min.

Seit Jahrzehnten bescheinigen alle einschlägigen Studien dem deutschen Bildungssystem ein eklatantes Maß an Chancenungerechtigkeit. Erst kürzlich wurde dies wieder bezüglich des Bildungshintergrundes des Elternhauses bestätigt: Von 100 Kindern aus Akademiker*innenfamilien nehmen 79 ein Studium auf. Haben die Eltern nicht studiert, sind es nur 27. Dies ist bei Weitem nicht die einzige Quelle für Chancenungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem. Weitere Faktoren sind: 

  • Ob und in welchem Maß es Förderung durch das Elternhaus gibt,
  • wie Schulen personell und finanziell ausgestattet sind,
  • ein Migrationshintergrund,
  • ob es Zugang zu digitalen Medien gibt und
  • der Lehrkräftemangel.

Die Forschungslage ist eindeutig, aber bis heute ist keine Trendwende absehbar. Wohlgemerkt, hier ist nicht die Rede von mangelnden individuellen Kompetenzen, sondern von vielfältigen, strukturellen Beeinträchtigungen in der Entwicklung von Bildungsbiografien, die nicht selten zu Desintegrationserfahrungen führen. Das ist nicht nur individuell negativ, sondern stellt auch gesellschaftlich eine Gefahr dar.

Neuorientierung und Weiterentwicklung  auf dem Zweiten Bildungsweg

Demgegenüber bieten die Bildungsgänge des Zweiten Bildungswegs (ZBW) ein großes Potenzial für individuelle Neuorientierung oder Weiterentwicklung und damit auch für gesellschaftliche Teilhabe. Um diese auszuschöpfen, müsste allerdings ein (unausgesprochenes) Ideal infrage gestellt werden, nachdem nur ein „gerader Bildungsverlauf“ wirklich gut ist. Es ist nötig, auch gebrochene Bildungsbiografien individuell und strukturell stärker als bisher wertzuschätzen und zu fördern. Studierende besuchen die Weiterbildungskollegs (Kolleg, Abendgymnasium und Abendrealschule), weil sie sich beruflich weiterentwickeln oder umorientieren wollen oder müssen. Drohender oder bereits eingetretener Verlust der Arbeitsstelle, der Wunsch, beruflich aufzusteigen oder die Suche nach neuen Perspektiven spielen eine Rolle.

Hier fügt sich der Zweite Bildungsweg auf der einen Seite nahtlos in die Bildungsbiografien ein, wie etwa bei dem Feuerwehrmann, der in den gehobenen Dienst aufsteigen will und hierzu die Fachhochschulreife benötigt. Auf der anderen Seite nutzen Studierende den Zweiten Bildungsweg, um mit ihren bisherigen Berufsbiografien abzuschließen und neue Wege zu gehen, wie die Friseurmeisterin, die nach dem Abitur am Abendgymnasium erfolgreich ein Masterstudium in Biochemie abschließt. Nicht zuletzt gibt es jene, die auf dem ersten Bildungsweg aus gesundheitlichen, psychosozialen oder motivationalen Gründen sowie durch die bereits genannten die Bildungsbiografien strukturell beeinträchtigenden Faktoren ihre Bildungsziele nicht erreichen konnten und auf dem Zweiten Bildungsweg einen erneuten Anlauf unternehmen.

Potenzial des Zweiten Bildungswegs weiterentwickeln

Was den Zweiten Bildungsweg neben seinem breiten Angebot außerdem auszeichnet: Studierende erleben Wertschätzung ihrer bisherigen Lebenswege und erfahren ihre Unterschiedlichkeit in einer durch große Diversität gekennzeichneten Lernumgebung als Bereicherung. Der Zweite Bildungsweg erbringt damit eine erhebliche Integrations- und Inklusionsleistung. Vor diesem Hintergrund braucht es einen Masterplan auf Landesebene, der unter Mitwirkung von Lehrkräften, Kommunal- und Landesverwaltungen sowie dem Bildungsministerium offensiv das gesellschaftliche Potenzial des Zweiten Bildungswegs weiterentwickelt. Erste wichtige Schritte wären:

  • Die Bekanntheit und Anerkennung des Zweiten Bildungswegs muss gesteigert werden. Er muss als individuelle und gesellschaftlich wertgeschätzte Option in schulischen und außerschulischen Beratungsstrukturen fest verankert werden.
  • Die Zugangsvoraussetzungen müssen zeitgemäßen Lebensbedingungen angepasst werden.
  • Es muss anerkannt werden, dass die Voraussetzungen von Studierenden des Zweiten Bildungswegs zwangsläufig nicht identisch sind mit denen von Schüler*innen, die auf dem ersten Bildungsweg gerade frisch auf den entsprechenden Bildungsabschnitt vorbereitet worden sind: Lange Zeiträume seit dem letzten Schulbesuch, Schulabschlüsse in anderen Herkunftsländern, nachwirkende Versagenserfahrungen und Lücken in der Bildungssprache Deutsch erfordern das obligatorische Angebot eines einsemestrigen Vorkurses, der ebenso gefördert werden muss wie der gesamte Bildungsgang.
  • Vielfältige pädagogische, soziale und psychologische Unterstützungsangebote, die im System des ersten Bildungswegs längst Standard geworden sind, müssen auch in den Bildungsgängen des Zweiten Bildungswegs implementiert werden.

Wer das gesellschaftliche Potenzial des Zweiten Bildungswegs ernsthaft nutzen will, muss wegkommen vom achselzuckenden Betrachten von aktuellen, auch coronabedingten Anmeldezahlen, und konzeptionelle Initiativen ergreifen.