Berufs- und Weiterbildungskollegs bieten nicht selten denjenigen Schüler*innen Bildung, die aus verschiedenen Gründen in anderen Schulformen oder auf dem ersten Bildungsweg Schwierigkeiten hatten. Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund Förderbedarfe?
Rainer Schiffers: Im Berufskolleg und in einigen Bildungsgängen des Weiterbildungskollegs beobachten wir eine wachsende Heterogenität der Schüler*innenschaft mit dem Bedarf an Differenzierung und Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen. Unsere Schüler*innen sind aus sämtlichen Schulformen der Sekundarstufe I, häufig aus schwierigen Familienverhältnissen. Viele junge Geflüchtete sind darunter.
Die Beziehungsarbeit wird immer wichtiger. Auch Diagnostik wird notwendiger. Lehrkräfte mit einer sonderpädagogischen Fachrichtung können diese Bedarfe decken, da sie sich von Beginn ihres Studiums an in diesen Denkstrukturen bewegen und sich nicht so sehr als Fachvermittler*innen verstehen.
Inwieweit werden Förderbedarfe am Berufskolleg ermittelt? Wie ist demgegenüber der tatsächliche Bedarf an sonderpädagogischer Förderung am Berufskolleg?
Rainer Schiffers: Der Förderschwerpunkt Lernen zum Beispiel fällt im Berufskolleg weg. Der Bedarf wird schlicht nicht mehr ermittelt, obwohl viele Schüler*innen nach der zehnten Klasse weiter Förderbedarf haben. Sie wechseln nach der Sekundarstufe I ins Berufskolleg und benötigen weiterhin Expert*innen für Inklusion. Ehemalige Referendar*innen mit Förderschwerpunkt melden Folgendes zurück: Sie sind auch Multiplikator*innen für eine förderpädagogische Denkweise in den Kollegien unserer Berufskollegs. Sie initiieren Förderpläne, Förderbänder, Fördergespräche, Drehtürmodelle und Übergaben innerhalb unseres Systems sowie vieles mehr. Sie bilden somit auch die Kollegien weiter.
Vor allem weiten sie die Denkstrukturen der Lehrkräfte an Berufskollegs, die dies sehr dankbar annehmen. Oft stehen die Lehrkräfte hilflos vor der wachsenden Heterogenität und den Folgen für das tägliche Unterrichtsgeschehen. Sie bitten um Anregungen, wie sie differenzierter und individueller mit dieser Schüler*innenschaft umgehen können. So entwickeln sich mit Unterstützung der förderpädagogischen Expert*innen aus den Kollegien heraus Konzepte zur Schulentwicklung. Und eines zeigt sich jeden Tag sehr deutlich: Die Heterogenität ist nicht allein in den einzelnen Bildungsgängen zu beobachten, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bildungsgänge am Berufskolleg: von der Ausbildungsvorbereitung über die duale Ausbildung bis hin zum Abitur.
Bei der letzten Änderung der Laufbahnverordnung 2021 wurde beschlossen, dass es im Rahmen des Lehramts für das Berufskolleg nicht mehr möglich ist, eine Fachrichtung oder ein Unterrichtsfach mit einem Förderschwerpunkt zu studieren. Welche Folgen hatte diese Änderung?
Rainer Schiffers: Es war über 30 Jahre möglich, eine Fachrichtung oder ein Unterrichtsfach mit einem Förderschwerpunkt wie Lernen oder Emotionale und soziale Entwicklung zu studieren. Die Änderung von 2021 ist hochproblematisch, denn diese Pädagog*innen mit Förderschwerpunkt werden dringend im Berufskolleg benötigt! Alle Berufskollegs haben Schüler*innen mit Förderbedarf. Bisher war der einzige gangbare Lösungsweg, Lehrkräfte mit einem Förderschwerpunkt dafür einzustellen. Gleiches gilt auch am Weiterbildungskolleg. Hier gab und gibt es einen großen Mangel, sodass es sehr unterschiedlich geglückt ist.
Durch die Verhinderung, einen Förderschwerpunkt wie Lernen oder Emotionale und soziale Entwicklung zu wählen, geht die Anzahl der Referendar*innen noch weiter zurück und die dringend benötigten Förderschulkräfte finden nicht mehr den Weg über die Ausbildung in das Berufskolleg. Wenn sonderpädagogisches Fachwissen im Kollegium fehlt, erfahren die Schüler*innen eine dauerhafte Überforderung, die zu einer „erlernten Hilflosigkeit“ führt. Durch das Fehlen der Expert*innen für Inklusion kann das nicht aufgefangen werden.
Wie stehen die Chancen auf eine Wiedereinführung des Lehramts Sonderpädagogik
am Berufskolleg?
Rainer Schiffers: Die Chancen stehen gut, da die FDP die treibende Kraft für die Veränderungen in 2021 war. Die CDU hat die Änderungen aus Koalitionsgründen mitgetragen. Die SPD und DIE GRÜNEN waren eindeutig dagegen. Die inhaltliche Begründung für das Verbot, einen Förderschwerpunkt für das Lehramt an Berufskollegs zu studieren, kam damals aus dem Gymnasium. Dort wurden diese Lehrkräfte teilweise als Kolleg*innen mit nur einem Fach angesehen – ihr Förderschwerpunkt war nicht gefragt. Im Berufskolleg wird jede Lehrkraft mit Förderschwerpunkt dringend benötigt, unabhängig vom zweiten Fach oder der beruflichen Fachrichtung. Ein Laufbahnwechsel nach dem Staatsexamen ist auch schwierig. Bei Abordnungen sind die Lehrkräfte nicht vollständig in das System Berufskolleg integriert, obwohl gerade Lehrkräfte mit Förderschwerpunkten sehr dringend in den Berufskollegs gebraucht werden.
Abgeordnete Lehrkräfte können keine Beförderungsstellen besetzen und nicht perspektivisch planen, da durch Schwankungen der Schüler*innen- zahl – je nach Umgang mit dem vorherigen Förderbedarf aus der Sekundarstufe I beim Übergang ins Berufskolleg – ihre Berechtigung an der jeweiligen Schule auch wieder wegfallen kann. Eins steht fest: Der Förderbedarf hört nicht auf, wenn die Schüler*innen die Förderschulen oder den Gemeinsamen Unterricht verlassen. Wir wollen am Berufskolleg Inklusion leben. Professionelle Strukturen mit multiprofessionellen Teams werden auseinanderfallen, wenn die tragende Säule, die Förderpädagog*innen, in Zukunft nicht mehr am Berufskolleg sind. Der Handlungsbedarf für eine erneute Änderung der Laufbahnverordnung ist deshalb groß!