lautstark. 19.04.2024

Mitte-Studie: Wie ist die Stimmung in Deutschland?

„Vermehrte Beunruhigung über Beunruhigung“ – War Deutschland nie zuvor so nervös?

Während die gesellschaftliche Mitte laut aktueller Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nach rechts rückt, demonstrieren Tausende Menschen Woche für Woche gegen die AfD. Was sagt das über den Zustand unserer Gesellschaft aus? Und wer kann was dagegen tun? Zwei Experten geben Antworten.

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2024 | Wir gegen Rechts
  • Autor*in: Nadine Emmerich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Am 10. Januar 2024 schlug ein Artikel des Recherchezentrums CORRECTIV ein wie eine Bombe: Thema war ein Treffen radikaler Rechter am 25. November 2023 in Potsdam, an dem auch AfD-Politiker*innen sowie Mitglieder der CDU und der konservativen Werteunion teilgenommen hatten. „Sie planten nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland“, hieß es in dem Beitrag über Massenabschiebungen aufgrund rassistischer Kriterien.

Hunderttausende Menschen gehen seitdem gegen Rechtsextremismus und die AfD auf die Straße. Was sich in einigen Köpfen derzeit Besorgniserregendes abspielt, gibt auch die im September 2023 veröffentlichte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung (FES) mit dem Titel „Die distanzierte Mitte“ wieder. Die Mitte der Gesellschaft werde zunehmend empfänglich für extremistische und demokratiefeindliche Einstellungen, heißt es in der seit 2006 alle zwei Jahre erscheinenden Untersuchung. Jede zwölfte Person teilt demnach ein rechtsextremes Weltbild.

Der Anteil der Befragten mit klar rechtsextremer Orientierung stieg von zwei bis drei Prozent in früheren Jahren auf acht Prozent. 38 Prozent vertreten verschwörungsgläubige, 33 Prozent populistische und 29 Prozent völkisch-autoritär-rebellische Positionen. Unterdessen sinkt das Vertrauen in die Institutionen und das Funktionieren der Demokratie auf unter 60 Prozent. Inzwischen denken 32 Prozent, Medien und Politik steckten unter einer Decke. Mit 30 Prozent stimmen fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk.“ Ein Fünftel meint: „Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie.“

Gründe für die Distanzierung von Demokratie sind vielfältig

Wer aber ist eigentlich diese Mitte, die so tickt? „Zur Mitte unserer demokratisch verfassten Gesellschaft können alle gehören, die keine extremistischen Normen und Werte vertreten, die die Verfassung infrage stellen“, erklärt Prof. Dr. Andreas Zick, Studienleiter und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Laut Studie setzt sich die untersuchte Mitte dabei aus vielfältigen sozialen und kulturellen Gruppen zusammen: „Es ist jene Mitte, die von den Parteien als solche angesprochen wird.“

Und die es zu verteidigen gilt: „Wenn rechtsextreme Ideologien in die Mitte eindrängen und sich dort normalisieren, wird die Demokratie instabil“, warnt Andreas Zick. Die Gründe für die Distanzierung von der Demokratie beziehungsweise den Normen und Werten des Grundgesetzes sind vielfältig: „Viele Befragte übernehmen radikale und populistische Ideen und Weltbilder und normalisieren den Rechtsextremismus, weil sie glauben, dass sie damit ihren Status, ihren Besitzstand, ihre vermeintliche Vormachtstellung als Deutsche erhalten können“, sagt der Bielefelder Konfliktforscher.

Wenn rechtsextreme Ideologien in die Mitte eindrängen und sich dort normalisieren, wird die Demokratie instabil.

„Sie öffnen sich für Rechtsaußen, aber nicht unbedingt, weil es ihnen schlechter geht, sondern weil sie an Opfermythen und Bedrohungen glauben, wie sie im Rechtspopulismus gezeichnet werden.“ Die Befragten seien der Meinung, das Land sei instabil und man könne den staatlichen Institutionen nicht trauen. Andreas Zick betont zudem: „Das muss auch die Gewerkschaften interessieren, denn Gewerkschaftsmitglieder sind in unserer Studie offener für rechtsextreme Einstellungen als andere.“ Rechtsaußen-Parteien wie die AfD suchten aktiv Gewerkschaftsmitglieder auf. Deren Unterstützung sei attraktiv, um das Bild aufrechtzuerhalten, man vertrete das einfache Volk.

Politik sollte Demokratiebildung fördern

Der Politik empfiehlt der Wissenschaftler, zunächst Vertrauen zurückzugewinnen. Dazu gehöre es, ein positives Zukunftsbild der Gesellschaft zu zeichnen und dieses besser zu kommunizieren. „Die Erfolge durch Zuwanderung, der Energiewende und der Stabilisierung der Wirtschaft kommen nicht an“, sagt er. „Politik kann sich aus der Reflexhaltung begeben, die immer nur auf rechte Mythen – etwa die Macht ‚woker Minderheiten‘ und die vermeintliche Unterdrückung des Volkes – reagiert.“

Derzeit sei die Zeit für einen Demokratieschub günstig, unterstreicht Andreas Zick und fordert: „Politik kann Demokratieprojekte und insbesondere Demokratiebildung und -erziehung stärken. Schulen und Hochschulen sind heute wichtiger denn je. Bildungseinrichtungen können stärker viele und andere Meinungen zulassen und anhören. Sie haben Freiheiten, die Betriebe und Behörden nicht haben.“ Das könnten sie für Bildungsformate nutzen, in denen junge Menschen lernten, Konflikte konstruktiv auszutragen.

Ständige Echtzeiteinblicke haben Folgen für den Blick auf die Stimmung in der Gesellschaft

Das Erstarken rechter Kräfte auf der einen und die Proteste dagegen auf der anderen Seite zeichnen derweil nicht automatisch das Bild eines gespaltenen Landes. Für Nils C. Kumkar vom SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen lässt sich die Gesellschaft nicht einfach in zwei Lager teilen: Nicht alle, die unzufrieden seien und die Ampelkoalition ablehnten, wählten die AfD. Umgekehrt unterstützten nicht alle, die gegen Rechtsextremismus demonstrierten, die Regierungspolitik.

„Man kann aber feststellen, dass sich die Gesellschaft noch nie so gründlich dabei beobachtet hat, nicht einer Meinung zu sein“, betont er. Das habe mediale Gründe: „Es gibt ständig Echtzeiteinblicke in das, was sich als Stimmung der Bevölkerung präsentiert“ – Umfragen der Meinungsforscher*innen, Artikel und TV-Berichte über deren Erkenntnisse und schließlich aufgeregte Posts in sozialen Medien. Der Unterschied zu früher: „Wenn die Leute nicht einer Meinung waren, haben sie das in vielen Fällen gar nicht mitbekommen.“

Nils C. Kumkar spricht aktuell auch von einer „vermehrten Beunruhigung über Beunruhigung“: „Es gibt eine nervöse Unruhe, die ironischerweise auch daraus gespeist wird, dass überall transportiert wird, so nervös und unruhig waren wir noch nie.“ Mit Blick auf Gruppen, die besonders unzufrieden seien, sagt der Bremer Forscher: „Wir beobachten, dass fast alle Unterstützer*innen der AfD sich zurückgesetzt fühlen und meinen, andere profitierten auf ihre Kosten.“ Dieses Ressentiment tauche aber aus ganz unterschiedlichen Klassen auf.

Politisch andere Themen setzen und ehrlich sein

Doch wie geht man nun mit diesen Stimmungen und Befindlichkeiten in der Bevölkerung um? „Erst mal sollte man sich klarmachen, dass Unzufriedenheit normal ist“, rät Nils C. Kumkar. In einer demokratischen Zivilgesellschaft gehe es nicht ohne Konflikte darüber, wie es weitergehen und was sich ändern müsse. Ehrlichkeit sei wichtig: „Man darf sich nicht in die Tasche lügen, dass es eine Lösung gäbe, mit der am Ende alle Probleme gelöst und alle zufrieden wären.“ Der Zustand einer Gesellschaft hänge auch viel davon ab, wie gut sie in der Lage sei, Widersprüche zu verarbeiten.

Der Experte plädiert darüber hinaus dafür, politisch andere Themen zu setzen. Die AfD habe nicht davon profitiert, dass mehr Menschen rechter geworden wären, sondern dass Migration spätestens seit 2015 als Schicksalsfrage verhandelt worden sei. „Hätte die Gesellschaft mit derselben Vehemenz über andere Themen gestritten, hätte die AfD sehr viel größere Schwierigkeiten gehabt. Die AfD ist der Gegner, der gewachsen ist, weil Migration so zentral gestellt wurde“, erklärt er. Handlungsmöglichkeiten sieht Nils C. Kumkar derzeit vor allem bei Medien und Wissenschaft.

Man darf nicht der Illusion aufsitzen, man könnte Rechtsextremismus über Nacht wegbilden.

Journalist*innen und Wissenschaftler*innen hätten weniger systemischen Druck als die Politik, weil sie nicht um Stimmen wetteifern müssten, sagt er. „Sie könnten aufklärend und einordnend vermitteln, welche Veränderungen wahrscheinlich unausweichlich sind und jetzt angepackt werden müssen.“ Bildung spiele zwar eine sehr wichtige Rolle bei der Förderung demokratischer Werte und des kritischen Denkens, sei aber eher eine langfristige Strategie. „Man darf nicht der Illusion aufsitzen, man könnte Rechtsextremismus über Nacht wegbilden“, sagt er.

Der Experte verweist darüber hinaus darauf, dass die Zivilgesellschaft das Problem auch von sich aus angegangen sei. „Was wir bei den Protesten gegen die AfD beobachten, ist ein wichtiges Zeichen: Es gibt in der Bevölkerung einen mobilisierbaren Unwillen gegen Rechtsextremismus. Und das kriegen die Bürger*innen augenscheinlich allein hin, ohne dass ihnen dafür jemand einen klaren Plan oder eine Anleitung an die Hand gegeben hat.“