lautstark. 04.11.2024

Gegen den Rechtsruck? Kritisch über Demokratie bilden!

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Kritische Demokratiebildung

Was tun gegen den Rechtsruck? Diese Frage wird mit Blick auf die jüngsten Wahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg sowie Europa immer drängender. Dr. Sascha Regier, Lehrer und Experte für das Thema kritische politische Bildung, plädiert in Schulen für eine kritische Auseinandersetzung mit Demokratie, damit sich bei Lernenden politisches Potenzial aktiver Mitbestimmung entfalten kann.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2024 | Kinderrechte – Lasst uns mitreden!
  • Autor*in: Dr. Sascha Regier
  • Funktion: Lehrer am Heinrich-Mann-Gymnasium Köln und aktiv im Forum Kritische politische Bildung
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Im zurückliegenden Europawahlkampf zeigte sich, dass die meisten Politiker*innen die Augen vor den Gründen der gegenwärtigen Vielfachkrisen wie Rechtsextremismus, Klimawandel und Erwerbsarmut verschließen und auf diese mit naiven Versprechungen reagieren. Fatalerweise setzten sie auf das vermeintlich Altbewährte. So verkündete beispielsweise Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf FDP-Wahlplakaten die Parole „Bildung: erste Verteidigungslinie der Demokratie“. Dass die gegenwärtige Demokratie durch den gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck gefährdet und zu verteidigen ist und dass dabei der Bildung eine gewichtige Rolle zukommt, ist auch aus einer bildungsgewerkschaftlichen Perspektive klar hervorzuheben. Dennoch manifestieren sich hier zwei grundlegende Probleme: Zum einen wird nach der Logik der umstrittenen Extremismustheorie unterstellt, die Demokratie werde lediglich von extremistischen Rändern gefährdet.

Damit wird suggeriert, dass von der bürgerlichen Mitte keine Demokratiegefährdung ausginge. Spätestens die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung haben diese Erzählung jedoch als Mär entlarvt. Ausgeblendet wird zudem, dass die Demokratie immer auch durch die kapitalistische Marktvergesellschaftung bedroht ist, deren Folgen unter anderem Privatisierung und soziale Ungleichheit sind. Zum anderen wird ignoriert, dass es in großen Bevölkerungsteilen ein nachlassendes Vertrauen in das Funktionieren demokratischer Errungenschaften gibt, obwohl dies durch empirische Studien vielfach nachgewiesen wurde. Auch Jugendliche sind immer weniger davon überzeugt, dass die etablierten Parteien und die vorhandenen Institutionen der Demokratie die Gegenwartskrisen zu lösen vermögen. Gerade die AfD schafft es fatalerweise, sich gegenüber dieser (potenziellen) Wähler*innengruppe als Partei zu inszenieren, die einen angeblichen staatlichen Kontrollverlust rückgängig machen würde.

Spannungsverhältnis zwischen (repräsentativer) Demokratie und Kapitalismus

Methode der AfD ist es hierbei, soziale Probleme zu kulturalisieren. Von antagonistischen Klasseninteressen – dem Widerspruchsverhältnis von Kapital und Arbeit – ist von ihr nichts zu vernehmen. Vielmehr behauptet Björn Höcke, die zunehmende Armut sei „nicht mehr“ durch den Konflikt zwischen „Oben und Unten“ – also den sozialen Klassenauseinandersetzungen – bedingt, sondern aus dem Verhältnis von „Innen und Außen“. Damit behauptet er – entgegen empirischer Evidenzen –, dass Migration der Grund zunehmender (Erwerbs-)Armut in Deutschland sei. Gerade an diesem rechten Narrativ hätte eine zeitgenössische Demokratiebildung anzusetzen und demgegenüber die strukturell bedingten gesellschaftlichen Konfliktlinien hervorzuheben.

Das Spannungsverhältnis von repräsentativer Demokratie und Kapitalismus ist hierfür ins Bewusstsein zu rücken: Politische Gleichheit der Staatsbürger*innen trifft durch das politische Mitspracherecht (Wahlrecht und Grundrechte) als Grundlage der parlamentarischen Demokratie auf soziale Ungleichheit (ungleiche Eigentumsrechte) als Grundlage der privatkapitalistisch organisierten Wirtschaftsordnung und ihrer Produktionsverhältnisse. Knapper formuliert: In der Politik kann demokratisch mitbestimmt werden, in der Arbeitswelt nicht. Die ökonomischen Strukturen bleiben der privaten Verfügungsgewalt der Eigentümer*innen überlassen. Zentrale Entscheidungen im Betrieb, Unternehmen und öffentlichen Dienst sind der Einflussnahme der (lohn-)abhängig Beschäftigten entzogen. Daran ändert auch die Institution der Mitbestimmung nichts.

Diese wurde 1952 durch das Betriebsverfassungsgesetz beschlossen. Das Gesetz verhinderte jedoch aufgrund des Einflusses der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sowie reaktionärer Kräfte in der Politik trotz mehrmaliger Novellen bis in die Gegenwart die Einführung betrieblicher Mitbestimmungsmöglichkeiten in Sektoren außerhalb der Montanindustrie, also der Kohle-, Stahl- und Eisenindustrie. Hier wurde 1951 eine paritätische Sitzverteilung zwischen Kapital und Arbeit in den Aufsichtsräten und damit Mitbestimmung etabliert. In den anderen Branchen hat der Betriebsrat bis heute keine Mitentscheidungsrechte bezüglich wirtschaftlicher Angelegenheiten, sondern lediglich ein Mitspracherecht bei personellen und sozialen Entscheidungen – Engagement und Durchschlagkraft von Personal- und Betriebsräten sollen hier nicht in Abrede gestellt werden.

Indem sie Mitbestimmung aktiv leben, sorgen sie für gute und sichere Arbeitsbedingungen. Dennoch hat sich der Betriebsrat durch das Nachwirken nationalsozialistischer Arbeitspolitik im deutschen Arbeitsrecht gemäß der dort formulierten „Friedenspflicht“ am Wohl des Betriebes zu orientieren. Dadurch bleiben die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse rechtlich unangetastet. Die Demokratie macht vor den Werktoren und Bürotüren halt. Dies hat Auswirkungen auf demokratische Einstellungen. Die Leipziger Autoritarismus-Studie stellte diesbezüglich bereits 2020 empirisch fest, dass sich die Menschen in der Arbeitswelt wenig selbst-, sondern vielmehr fremdbestimmt erfahren. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass diejenigen, die in zentralen Lebensbereichen wie der Arbeit Demokratie konkret erfahren, ein demokratisches Bewusstsein entwickeln und weniger anfällig für Ressentiments gegen andere Bevölkerungsgruppen sind.

Staatszentriertes Demokratieverständnis in der schulischen politischen Bildung

Auf die schulische politische Bildung haben diese Studien hingegen keine Auswirkung. Obwohl der Begriff und die Ausgestaltung der Demokratie historisch, politisch und normativ umkämpft sind, dominiert hier ein auf den staatlichen Bereich verengtes Demokratieverständnis. Demokratie wird nahezu ausschließlich als repräsentative – also parlamentarische – Demokratie vermittelt. Daran ändern auch in den Lehrplänen und -werken vorgesehene kontroverse Debatten über die Ergänzung von direktdemokratischen Elementen nichts. Hier wird über diskutierbare Möglichkeiten geschwiegen, die es als demokratische Ergänzung zum Parlamentarismus gibt, wie Wirtschaftsdemokratie, soziale Demokratie und Rätedemokratie. Das Thema Mitbestimmung wird lediglich im gewerkschaftlichen Kontext gestreift. Durch eine solche Engführung des Demokratieverständnisses werden wichtige fachdidaktische Prinzipien und Möglichkeiten der Demokratiebildung verfehlt. Einer notwendigen Kontroversität, Konflikt- und Alternativorientierung wird dies in keiner Weise gerecht.

Der Bereich des Politischen wird von vornherein beschnitten. Auch in den vorherrschenden politikdidaktischen Werken geht es ausschließlich darum, die vorhandenen Einflussmöglichkeiten und Partizipationschancen zu vermitteln und nicht das, was darüber utopisch hinausweist. Hier ließe sich fragen, wie Schüler*innen ihr Verständnis von Demokratie und Gesellschaftsgestaltung entwickeln sollen, wenn sie keine ergänzenden demokratietheoretischen Vorstellungen kennenlernen und nur auf das bürgerlich-liberale Modell einer repräsentativen Demokratie eingeschworen werden. Dies läuft schlussendlich auf die Affirmation und Stabilisierung der gegebenen Herrschaftsordnung und die sie bestimmenden Herrschaftsverhältnisse hinaus. Eine kritische Demokratiebildung weist darüber – notwendigerweise – hinaus.

Bildungsziel: Kritische Auseinandersetzung mit Demokratie

Ziel einer kritischen Demokratiebildung ist es, nicht bloß die bestehende Ordnung zu lernen oder im Sinne der Demokratie-Pädagogik ein gewünschtes demokratisches Verhalten bei den Lernenden durchzusetzen. „Kritisch“ bedeutet hier, danach zu fragen, ob die Demokratie das einlöst, was sie verspricht, also zu überprüfen, wer von demokratischer Partizipation ausgeschlossen ist und in welchen gesellschaftlichen Bereichen, beispielsweise in Schulen, Betrieben, der Verwaltung oder im öffentlichen Dienst, demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten nicht beziehungsweise kaum vorhanden sind. Eine so vermittelte Perspektive ermöglicht, potenzielle Räume der Demokratisierung im emanzipatorischen Sinne aufzumachen und Demokratie nicht lediglich als staatliches Organisationsprinzip, sondern gesamtgesellschaftlich zu begreifen und möglicherweise einzufordern. Dabei ist auch die historische Genese des liberalen Demokratiemodells zu besprechen:

Nachdem das europäische Bürgertum demokratische Mitbestimmung durch den Parlamentarismus gegen Adel und Monarchie im 17. und 18. Jahrhundert durchgesetzt hatte, beschnitt es die Ausweitung demokratischer Mitbestimmung, indem es das Wahlrecht der Arbeiter*innenklasse und der Frauen beschränkte und die Demokratie auf den staatlichen Bereich reduzierte. Vor allem die Forderungen der Betriebsrätebewegung (betriebliche Demokratie) wurden bekämpft. Zu vergegenwärtigen, auch für die derzeitigen gewerkschaftlichen Demokratiebestrebungen, ist, dass Demokratisierung immer durch Klassenkämpfe um die Verteilung von Berechtigungspositionen und Rechtsansprüchen stattfand. Somit könnte durch eine kritische Demokratiebildung gegen das für rechte Narrative ursächliche Gefühl der Fremdbestimmung angegangen werden, indem politisches Potenzial durch aktive Mitbestimmungsmöglichkeiten entfaltet wird. 

Lektüretipp

Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung

Aus dem Verlag: Gegenwärtige spätmoderne Gesellschaften zeichnen sich durch multiple Krisen aus: Soziale Ungleichheit, Rechtsextremismus und staatlicher Autoritarismus bedrohen die Demokratie, der kapitalistische Wachstumszwang die natürliche Umwelt. Hierauf muss die schulische Politische Bildung reagieren, wenn sie ihren Bildungsauftrag ernst nimmt. Sascha Regier zeigt auf, dass eine Soziopolitische Bildung das Politische wieder in den Bereich der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zurückholen kann. Gegenüber den dominierenden Positionen der Politischen Bildung, die affirmativ auf die Stabilisierung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung orientiert sind, kann sie staatliche Herrschaft differenzierter und in ihrer aktuellen Transformation begreifen.

Sascha Regier: transcript Verlag, 2023 | kostenfreier PDF-Download