lautstark. 04.11.2024

Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss Umverteilung wollen

BildungsfinanzierungChancengleichheit

Kommentar zur Kindergrundsicherung

Die UN-Kinderrechtskonvention garantiert Kindern Leistungen der sozialen Sicherheit. Eine Kindergrundsicherung einzuführen, die diesen Namen tatsächlich verdient, wäre vor diesem Hintergrund die eigentlich selbstverständliche Umsetzung eines internationalen Übereinkommens. Sozialexperte Ulrich Schneider über ein Scheitern mit Ansage.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2024 | Kinderrechte – Lasst uns mitreden!
  • Autor*in: Ulrich Schneider
  • Funktion: freiberuflicher Autor, Sozialexperte und Berater
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Die Regierung, aber auch die Koalitionsparteien diskutieren gegenwärtig über erste Schritte zur Einführung der Kindergrundsicherung und dann auch darüber, wie man den Weg zum zweiten Schritt formuliert, der vermutlich dann nicht in dieser Legislaturperiode sich ereignen wird.“ In diesem verdrucksten Schwurbeldeutsch reagierte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner diesjährigen Sommer-Pressekonferenz am 28. Juli 2024 auf die Frage einer Journalistin, ob die Kindergrundsicherung „vom Tisch“ sei. Übersetzt in klare Sprache sagte er: Ja, sie ist vom Tisch. Da sind zwar noch ein paar Krumen, aber im Großen und Ganzen ist der Kuchen gegessen.

Die optimistische Idee: ein unbürokratisches Instrument gegen Kinderarmut

Wir erinnern uns: Anfang 2025 sollte die Kindergrundsicherung nach den Vorstellungen von Familienministerin Lisa Paus in Kraft treten und die Chancen dafür sahen nach den Bundestagswahlen im September 2021 auch gar nicht so schlecht aus. Gleich zwei Ampelpartnerinnen, SPD und Grüne, hatten die Kindergrundsicherung in ihren Wahlprogrammen. Erstmalig schaffte sie es in einen Koalitionsvertrag. Die Idee: Unabhängig vom Einkommen der Familie sollte an jedes Kind ein „Garantiebetrag“ gezahlt werden, vergleichbar dem jetzigen Kindergeld. Je nach Einkommenssituation sollte darüber hinaus ein Zuschuss gezahlt werden, um alle existenznotwendigen Bedarfe des Kindes abzudecken und Kinderarmut zu verhindern. Das Ganze sollte so unbürokratisch wie möglich gestaltet werden. Kindergeld, Kinderzuschlag und Ansprüche aus Hartz IV sollten mit der Kindergrundsicherung zu einer gemeinsamen Leistung zusammengefasst werden. Vor allem aber:

Das in Hartz IV kleingerechnete regierungsamtliche Existenzminimum der Kinder sollte laut Koalitionsvertrag „neu definiert“ werden. Optimist*innen, die diesen Vertrag für bare Münze nahmen, sahen bereits den ganz großen Wurf. Und genau der wäre ja auch angezeigt gewesen in einem Deutschland, in dem jede*r fünfte Minderjährige in einer einkommensarmen Familie lebt und Kindern damit in großer Zahl das verweigert wird, was sie in einer Gesellschaft, in der fast nichts ohne Geld funktioniert, für ihre Entwicklung und zu ihrem Glücklichsein wie die Luft zum Atmen brauchen: Teilhabe, die Gewissheit, dazuzugehören und mitmachen zu können, das Gefühl von Sicherheit, frei von Existenzängsten in der Familie. Nicht umsonst formuliert die UN-Kinderrechtskonvention in Artikel 26 das Recht eines jeden Kindes auf „Leistungen der sozialen Sicherheit“. Sie sind die Grundlage für gute Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten. Kinderarmut ist damit nicht nur moralisches Unrecht, das den Kindern seitens der politisch Verantwortlichen angetan wird. Die Duldung von Kinderarmut ist auch ein klarer Verstoß gegen internationale Übereinkommen.

Das traurige Ergebnis: Herabstufung zur Verwaltungsreform

Sollten Bundestag und Bundesrat wider Erwarten in dieser Legislaturperiode doch noch irgendetwas in Sachen Kindergrundsicherung beschließen, wird sie, so viel steht in jedem Fall fest, ihrem zurecht anspruchsvollen Titel nicht mehr gerecht werden können. Im Grunde kann das öffentliche und regierungsoffizielle Scheitern des Projekts schon auf den 28. August 2023 datiert werden. Nach langem Tauziehen und einem schließlich ganz offen ausgetragenen Koalitionsstreit über die Kosten des Ganzen traten an diesem Tag Familienministerin Lisa Paus, Finanzminister Christian Lindner und Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil gemeinsam vor die Kameras, um endlich eine Einigung zu verkünden. Paus: „Die neue Kindergrundsicherung kommt.“ Lindner: „(Wir) haben … keine generellen Leistungserhöhungen verabredet.“ Es gehe (lediglich noch) um die Bündelung von Leistungen und ihre verbesserte Inanspruchnahme durch Automatisierung und Digitalisierung. Damit war die Kindergrundsicherung herabgestuft zur reinen Verwaltungsreform.

Die versprochene und seitens der Verbände mit hohen Erwartungen verknüpfte „Neudefinition des Existenzminimums“ entpuppte sich im Weiteren als nicht nennenswerte Kostenverschiebung zwischen Eltern und Kindern in der Regelsatzstatistik. Weiterhin werden Familien mit Armutsregelsätzen abspeist werden, die deutlich unter dem notwendigsten Bedarf liegen. So zynisch es klingen mag: Die Kinderarmut würde zwar mit einer solchen Kindergrundsicherung nicht beseitigt, aber ihre Verwaltung digitalisiert und vereinfacht. Am Ende wird es nur noch darum gehen, wer für das Scheitern der Kindergrundsicherung verantwortlich gemacht werden kann: Eine Familienministerin, der vorgeworfen wird, unfertige Konzepte eingebracht zu haben? Ein Finanzminister, dem das Ganze ohnehin nie passte und der mit seiner FDP mittlerweile sogar ganz offen für Leistungskürzungen beim Bürgergeld eintritt? Oder ein Kanzler, der sich zu keinem Moment hinter das Projekt stellte, ohne herumzudrucksen und zu schwurbeln?

Echte Kindergrundsicherung beginnt bei der Steuerpolitik

Eine Lehre dürfen wir aber auf jeden Fall daraus ziehen: Die Einführung einer Kindergrundsicherung beginnt nicht mit Überlegungen zu kostenneutralen Verwaltungsreformen, dem Kampf gegen die Dunkelziffer, mehr Bürger*innenfreundlichkeit und den Abbau der Bürokratie. Das alles ist nur selbstverständlich, gilt für jede Sozialleistung und rechtfertigt noch lange nicht das Label Kindergrundsicherung. Überlegungen zu einer Kindergrundsicherung haben mit der Frage zu beginnen: Was braucht ein Kind? Was brauchen Familien? Wie viel Geld brauchen sie, um wenigstens auf bescheidenstem Level mithalten zu können? Und was kostet das Ganze? Zur ganzen Wahrheit gehört dann auch, dass sich eine Kindergrundsicherung nie ohne Umverteilung verwirklichen lassen wird. Das Scheitern einer Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient, war deshalb bereits am 15. Oktober 2021 vorgezeichnet. An jenem Tag, an dem SPD, Grüne und FDP als Resultat ihrer Sondierungsgespräche jegliche Steuererhöhung – selbst für Spitzenverdiener*innen und Hochvermögende – rigoros ausschloss. Wer eine Kindergrundsicherung will, muss auch Umverteilung wollen. Wer sich um diese Frage herumdrückt, wird entgegen allen Sonntagsreden und Lippenbekenntnissen auch keine Kindergrundsicherung initiieren. Die Steuerpolitik ist der Glaubwürdigkeitstest aller armutspolitischen Versprechungen.