

„Attraktivität der Arbeit ist ein großartiger Preis. Er besagt: Was ihr macht, ist gut. Bei euch zu arbeiten, ist schön. Man muss zeigen, dass unser Job auch in der jetzigen Zeit richtig Spaß macht.“
Fluktuation gibt es in der Kita Talstraße im baden-württembergischen Fellbach kaum. Vielerorts fühlen sich pädagogische Fachkräfte nach wenigen Jahren im Beruf bereits ausgebrannt und suchen sich einen anderen Job. Anders in der Einrichtung nahe Stuttgart, in der rund 80 Kinder betreut werden: Dort feiert in diesem Jahr eine Kollegin ihr 30. Dienstjubiläum, eine andere ist seit 25 Jahren dabei. Die meisten Erzieher*innen arbeiten seit mehr als zehn Jahren in der Talstraße, sagt Kitaleiterin Tanja Schaal.
Das hat Gründe, die Ende 2024 auch prämiert wurden: Beim Deutschen Kita-Preis bekam das Haus den vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) verliehenen Zusatzpreis Attraktivität der Arbeit. „Der Kindergarten Talstraße überzeugte die Jury mit seinem ganzheitlichen Konzept, das Partizipation und Mitbestimmung in den Mittelpunkt stellt. Besonders beeindruckend sind die gelebten Beteiligungsformate, eine flexible Arbeitszeitgestaltung und die aktive Förderung eigener Ideen sowie umfassender Fortbildungsmöglichkeiten“, hieß es zur Begründung.
Werkstattpädagogik fördert Partizipation auf zwei Ebenen: bei Kindern und bei Beschäftigten
Ein wichtiger Baustein dabei ist die Werkstattpädagogik, die die Stadt Fellbach als Trägerin einführte. Es gibt beispielsweise die Werkstatt Ernährung mit dem Kinderrestaurant, die Werkstatt Bewegung inklusive Wassergewöhnung und das Atelier mit der Nähwerkstatt. Abgedeckt werden auch der naturwissenschaftliche Bereich, Musik, Rollenspiel, Tanzen, Garten, Bauen und Konstruieren, Schrift und Lesen sowie Yoga und Entspannung. Alle Beschäftigten wurden bei der Einführung des Konzeptes nach ihren Stärken und Interessen gefragt und eingeteilt. „Wir nutzen das, wofür jemand brennt, und setzen es in pädagogische Qualität um“, betont der stellvertretende Kitaleiter Simon Rommel.
Die Beschäftigten gestalteten ihren Arbeitsplatz so selbst mit, das motiviere und verändere das gesamte Arbeitsgefühl, beobachtet die Leitung. Tanja Schaal erklärt zudem: „Wir wollen, dass die Kinder partizipieren. Wir wollen ihnen nichts überstülpen, sondern ihnen genau zuhören und flexibel sein. Und wenn ich so mit den Kindern arbeite, dann tue ich das auch mit den Kolleg*innen.“ Mit dem Werkstattkonzept setzte die Stadt Fellbach klare und einheitliche Standards. Alle werden etwa für Werkstattpädagogik und beobachtendes Wahrnehmen oder in Themen wie Gesprächsführung und Schutzkonzept geschult. Weitere Fortbildungen und Arbeitskreise sind dann individuell je nach Werkstatt. Der Träger bildet zudem jede pädagogische Fachkraft im Ort als Sprachförderkraft aus.
Wir können damit werben, dass man bei uns gefördert wird“, sagt Tanja Schaal. Anders als viele andere Einrichtungen hat die Kita mit 16 pädagogischen Fachkräften in Voll- und Teilzeit allerdings auch keinen Personalmangel. Das liege vermutlich nicht allein an den Arbeitsbedingungen, sagt die Leiterin. In diesem Jahr bildet das Haus zwölf angehende Erzieher*innen aus, für welche die Kita gemeinsam mit dem Träger auch einen eigenen Ausbildungsleitfaden entwickelte. Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit und Mitglied der Jury des Deutschen Kita-Preises, sagt: „Auch das gehört zur Attraktivität der Arbeitsbedingungen: Gelingt es, dass Auszubildende und Quereinsteigende Zeit haben, zu wachsen, bevor sie selbstständig aktiv werden und Verantwortung übernehmen müssen?“
Erzieher*in ist einer der schönsten Berufe, den wir in unserer Gesellschaft anzubieten haben. Aber um einzelnen Kindern und der Gruppe gerecht zu werden, brauche ich gute Arbeitsbedingungen.
Beschäftigte und Vorgesetzte ziehen bei Vereinbarung von Privat- und Berufsleben an einem Strang
Für die von der Jury ebenfalls hervorgehobene flexible Arbeitszeitgestaltung experimentiert Tanja Schaal mit Pausenzeiten, Dienstplänen, Modellen für Vor- und Nachbereitungszeit, stundenweiser Arbeit auch im Homeoffice. Urlaubswünsche, Arzttermine, Überstundenabbau zu bestimmten Zeiten – alles wird versucht, irgendwie zu berücksichtigen. Im Gegenzug erwartet die Kitaleitung aber auch, dass Mitarbeiter*innen frühzeitig planen und zuverlässig zur Stelle sind, wenn es aus Sicht des Führungsduos erforderlich ist.
Über Möglichkeiten zum Aufstocken oder zur Reduzierung von Arbeitszeit wird bei jährlichen Mitarbeiter*innen-Vorgesetzten-Gesprächen geredet: Lassen sich Beruf und Privatleben gut vereinbaren? Oder wie ließe sich die Arbeitszeit entsprechend gestalten? „Dass wir sagen, geht nicht, gibt es bei uns selten, wir schauen immer mit offenen Augen, was möglich sein könnte“, sagt Tanja Schaal. Eine Haltung, die sich Doreen Siebernik insgesamt viel mehr wünscht: „Wir sind immer damit beschäftigt, zu begründen, was alles warum nicht geht.
Es fehlt die Aufbruchstimmung – zu sagen, wie kann es uns denn doch gelingen, unter schwierigen Umständen bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen?“ In den Fellbacher Einrichtungen wird auch die Digitalisierung vorangetrieben. So führte die Stadt unter anderem überall die App Kikom ein. Das vereinfacht nicht nur die Kommunikation untereinander, sondern auch die mit Eltern. Alle Termine werden digitalisiert, Informationen schnell und präzise gestreut – das spart Zeit. Auch der Draht zum Träger sei kurz und gut, sagt Tanja Schaal. „Wir werden dort gehört und ernst genommen.“
Kitas mit Fachkräftemangel empfiehlt das Leitungsteam eine genaue Analyse der täglichen Abläufe und Aufgaben. Salopp formuliert: „Wo wird vielleicht auch Zeit verplempert, die ich besser nutzen könnte?“ In der Talstraße etwa wurden früher große Sommerfeste veranstaltet. Dafür wurden 150 Hüte gebastelt, 200 Muffins gebacken, 10 Aufführungen einstudiert. „Und als das Fest vorbei war, waren alle Erzieher*innen total am Ende“, sagt Tanja Schaal.
aher gibt es nun stattdessen zwei weniger aufwendige Familiennachmittage im Jahr. Um die Ressource Mitarbeiter*innen zu schonen, könnten Kitas auch hinterfragen, ob bei jedem Elternabend tatsächlich alle anwesend sein müssen und ob es jede Woche eine Teamsitzung geben müsse. Mit der Auszeichnung beim Deutschen Kita-Preis sieht sich die Einrichtung in der Talstraße auf ihrem Weg bestätigt: „Attraktivität der Arbeit ist ein großartiger Preis.
Er besagt: Was ihr macht, ist gut. Bei euch zu arbeiten, ist schön. Man muss zeigen, dass unser Job auch in der jetzigen Zeit richtig Spaß macht“, betont Tanja Schaal. Auch Doreen Siebernik sagt: „Erzieher*in ist einer der schönsten Berufe, den wir in unserer Gesellschaft anzubieten haben. Aber um einzelnen Kindern und der Gruppe gerecht zu werden, brauche ich gute Arbeitsbedingungen.“
Dass wir sagen, geht nicht, gibt es bei uns selten, wir schauen immer mit offenen Augen, was möglich sein könnte.
Kitaleitungen haben Schlüsselfunktion
Aus Sicht der GEW-Expertin hat die Kitaleitung dabei eine Schlüsselfunktion. „Kitaleitungen spielen eine entscheidende Rolle für die Qualität der pädagogischen Arbeit, das Arbeitsklima, das Wohlbefinden der Kolleg*innen und letztendlich deren Gesundbleiben.“ Ohne Anerkennung und Vertrauen sowie die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen, verlören Beschäftigte die Motivation und Lust. „Und das ist in pädagogischen Berufen das Schlimmste, was passieren kann.“
Wegen des Fachkräftemangels würden derzeit alle um pädagogische Fachkräfte werben und konkurrieren – von Kita, Hort und Ganztag bis zu Wohnheimen und Hilfen zur Erziehung, unterstreicht Doreen Siebernik. „Ich sage angehenden Erzieher*innen daher oft: Ihr seid Goldstaub, Ihr könnt euch aussuchen, wo ihr arbeiten wollt. Wählt Arbeitgeber, wo gute Tariflöhne gezahlt werden, aber wo auch die Arbeitsbedingungen passen. Und wenn beides stimmt, haben unsere Berufe eine echte Chance, attraktiver auch für junge Leute zu werden.“