lautstark. 11.02.2022
Wenn Kinder mit ihren Eltern brechen
In Ihrer therapeutischen Praxis arbeiten Sie mit Menschen, die von einem familiären Kontaktabbruch betroffen sind. Wie häufig kommt es Ihrer Erfahrung nach dazu?
Claudia Haarmann: Sehr häufig. In meiner Praxis arbeite ich sowohl mit verlassenen Eltern als auch mit kontaktabbrechenden, erwachsenen Kindern und ehrlich gesagt kann ich die Anzahl der Anfragen gar nicht bewältigen. Das Thema ist hochaktuell und erstreckt sich über alle Familienkonstellationen und sozialen Schichten hinweg. Es zeigt sich: Die junge Generation ist viel stärker sensibilisiert für psychologische Themen und spricht über Gefühle häufiger als es die Eltern getan haben. Sie pflegt enge Beziehungen zu Freunden, holt sich Unterstützung durch Coachings oder Therapien – und dabei kommt auch das Familiengefüge auf den Tisch. Dabei reflektieren junge Menschen ihre Beziehungen, reden offen über das, was schiefgelaufen ist und nehmen es nicht einfach als gegeben hin. Sie ist eine der ersten Generationen, der solche Reflektionen überhaupt möglich sind: Wir leben heute in einer reichen Gesellschaft. Das Außen ist relativ stabil und dadurch entsteht Raum, um nach innen zu blicken.
Wie kommt es dazu, dass der Kontakt zwischen Eltern und Kinder abbricht? Gibt es den einen großen Konflikt oder ist es eher ein schleichender Prozess?
Claudia Haarmann: Kontaktabbrüche passieren selten mit einem lauten Knall. In den meisten Fällen stehen sie am Ende einer lang vorausgegangenen Entwicklung. Fehlende Nähe, emotionale Kälte und mangelnde Kommunikation sind oft Gründe, warum Kinder sich von ihren Eltern lossagen. Der Kontaktabbruch ist ein Ausdruck von Verzweiflung, er geschieht nicht einfach aus einer Laune heraus, denn in der Regel lieben Kinder ihre Eltern. Der Abbruch ist ein Symbolakt, ein Hilfeschrei, der zeigt, dass das Kind die Beziehung zu den Eltern unter diesen Bedingungen nicht fortsetzen möchte.
Es geht immer um Nähe und Distanz. Gibt es von einem zu viel oder zu wenig, entsteht ein Problem. So gibt es Kinder, die erleben ihre Eltern kalt und distanziert. In diesen Familien gibt es meistens keine Wärme, es wird nicht gekuschelt und es dominieren Leistung, Druck und Stress. Auf der anderen Seite stehen Kinder, die genau das Gegenteil erleben: Ihnen ist in der Eltern-Kind-Beziehung einfach alles zu viel. Eltern, die ihre Kinder mit Fürsorge überschütten, die jeden Schritt überwachen, aus Sorge, dem Kind könnte etwas geschehen. Gerade in der engen Bindung der Mutter-Tochter-Beziehung liegt hier ein enormes Risiko für Kontaktabbrüche.
Warum gerade in der Beziehung von Mutter und Tochter?
Claudia Haarmann: Die Beziehungen von Töchtern und Müttern sind mit denen von Söhnen und Müttern nicht zu vergleichen. Zwar entwickelt sich der Sohn genau wie die Tochter aus der Bindung zur Mutter. Er orientiert sich aber spätestens mit drei, vier oder fünf Jahren in Richtung Vater – und erlebt damit eine völlig andere Identitätsstruktur. Für die Tochter dagegen bleibt die weibliche Vorbildrolle durch die Mutter lange Zeit unangefochten bestehen. Erst wenn es in Richtung Pubertät geht, beginnt der Individualisierungsprozess. Die Töchter gehen dann oft so stark auf Distanz, dass sie das einst geliebte Mama-Vorbild nun als peinlich bewertet wird. Wichtig: Das ist keine böse Absicht, sondern unerlässlich für die eigene Persönlichkeitsentwicklung der Tochter. Aber diese Phase müssen beide Seiten aushalten können. Das fällt leichter, wenn die Mutter ihrer Tochter schon in früheren Jahren Freiräume gelassen hat und Eigenständigkeit und Autonomie respektiert. Eine zu nahe Beziehung zum Kind oder eigene, unerfüllte Wünsche, die zu denen des Kindes gemacht werden – diese Faktoren engen Kinder ein. Wenn sie sich aus dieser Enge nicht schrittweise lösen können, kommt es – für die Eltern oft völlig unerwartet – zum Beziehungsabbruch. Autonomie und Nähe – beides ist gleichwertig und wir nennen das Liebe.
Wie erleben Sie in Ihrer Arbeit Eltern, die von ihren Kindern verlassen wurden?
Claudia Haarmann: Die Eltern sind zunächst völlig fassungslos und verzweifelt. Fragt man nach den Gründen, fällt auf, dass sie oft dieselbe Antwort geben: „Warum tut mein Kind das? Wir haben doch immer alles getan. Es ging uns doch gut.“ Aus ihrer eigenen Sicht haben die Mütter und Väter ihr Bestes gegeben und lieben ihre Kinder. Objektiv hatten sie aber oft ihr eigenes Wohl im Auge. Ganz wichtig: Hierbei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Diese Eltern sind keine bösen oder schlechten Menschen, sondern es sind Familien, die über mehrere Generationen Probleme aufgebaut haben.
Wir sprechen hier von der transgenerationalen Weitergabe. Die Großelterngeneration, die als Kind Kriegserfahrungen gemacht hat, hat durch das unverarbeitete Trauma die Fähigkeit verloren, wirklich gute Bindungen einzugehen. Sie musste immer gut funktionieren und ihre eigenen Gefühle zurückstellen. Funktionieren bedeutet aber nicht, Liebe zu leben.
Gibt es Warnsignale in der Eltern-Kind-Beziehung, auf die man reagieren und damit größere Konflikte verhindern kann?
Claudia Haarmann: Das ist nicht so einfach. Denn dazu müssten Eltern und Kindern selbst anerkennen, dass sie sich in einer dysfunktionalen Beziehung befinden. Von außen ist das vielleicht offensichtlich, für die betroffenen Familien ist der Stress die Normalität. Die erwachsenen Kinder sind es, die auf die Beziehungsprobleme der Familie aufmerksam machen. Wie so oft im Leben hilft auch hier ein gesundes Bauchgefühl: Wenn eine Mutter zum Beispiel das Gefühl hat, das eigene Kind auf Schritt und Tritt begleiten zu müssen, es gleichsam zu überwachen, sollte sie wachsam werden. Gleiches gilt, wenn ein Kind die Sprachlosigkeit in der Familie anmahnt, sich nicht gehört oder gesehen fühlt, wenn aggressive Stimmungen vorherrschen – das sind Zeichen, dass in der Eltern-Kind-Beziehung etwas nicht stimmt.
Wenn der Kontaktabbruch passiert: Gibt es die Chance, dass Eltern und Kinder sich wieder näher kommen?
Claudia Haarmann: Im ersten Schritt sollten Eltern den Kontaktabbruch erst einmal akzeptieren. Wenn sie diese vom Kind gezogene Grenze immer weiter überschreiten, wird sich die Abwehr nur noch weiter verstärken. Wirklich wichtig ist es, den Kontaktabbruch als Anlass zu nehmen, um genau hinzuschauen: Was ist in der Beziehung zum Kind passiert? Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Was belastet mein Kind so sehr, dass es die Verbindung zu mir, zu uns unterbricht? Und was hat das mit mir, meiner eigenen Geschichte zu tun? Wenn ich bei einem Kontaktabbruch berate, dann ist eine meiner wichtigsten Fragen: Wie ging es der Person mit den eigenen Eltern? In den meisten Fällen steckt dort ebenfalls eine schwierige Geschichte dahinter. Und jetzt ist da eben diese junge Generation, die sehr konsequent den Kontakt abbricht und den Finger auf die Familienwunde legt. In diesem Ausmaß gab es das früher nicht. Wenn eine Familie diesen schmerzhaften Prozess aber als Möglichkeit für ein neues Miteinander erkennt, entsteht Platz für Gespräche und Annäherung.
Was raten Sie, damit die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern gelingt?
Claudia Haarmann: Wir sollten mehr über diese Bindungsthematiken sprechen und sie gesellschaftsfähiger machen. Was brauchen wir eigentlich in Familienbeziehungen und was braucht ein Kind? Wie wollen wir miteinander umgehen? Erkenne ich mein Kind mit seinen Eigenschaften so an, wie es ist? Aus meiner Sicht bräuchte es in der Schule ein Fach, in dem es um Bindungen und Kommunikation geht. Je offener wir darüber reden, desto leichter wird uns das in Zukunft fallen. Ich denke, diese herausfordernden Zeiten, in denen wir aktuell leben, können wir nur bewältigen, wenn wir miteinander in Beziehung stehen. Und zwar in einem nicht bewertenden, sondern in einem wohlwollenden und annehmenden Kontakt.