Nachdem die 17-jährige Naina aus Köln sich 2015 öffentlichkeitswirksam auf Twitter beschwert hatte, dass sie in der Schule Sprachen und Gedichte lerne, aber keine Ahnung von Steuern oder Versicherungen habe, diskutierte ganz Deutschland über Unterrichtsinhalte. Mal wieder, muss man wohl sagen: Denn die Debatte, wie und in welchem Umfang ökonomische Bildung in die Schulen gehört, wird seit Jahren geführt. Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach sich bereits dafür aus, Wirtschaft und Finanzen als Fach zu unterrichten.
Bundesweit gibt es bisher indes kein separates Fach Wirtschaft. Die damals von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) geführte schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen beschloss 2017 die Einführung des Integrativfachs Wirtschaft-Politik, das seit dem Schuljahr 2020 / 2021 an allen weiterführenden Schulen des Landes auf dem Lehrplan steht. Das Fach Sozialwissenschaften (Sowi) fiel dafür weg, auch an den Hochschulen. Die universitäre Lehrkräfteausbildung wurde entsprechend angepasst.
Die GEW NRW gehörte zu denen, die die Einführung des neuen Fachs ablehnten. In Zeiten eines zunehmenden Rechtspopulismus sei vielmehr eine Stärkung der Demokratiebildung mit Hilfe eines fundierten Politikunterrichts erforderlich, argumentierte die Gewerkschaft 2018. Eine Lehramtsstudentin sammelte 2021 mit der Petition SOWI BLEIBT mehr als 41.000 Unterschriften gegen die Reform. Längst stellte das Schulministerium klar, dass alle Abschlüsse im Fach Sozialwissenschaften gültig blieben und Lehrer*innen damit Wirtschaft-Politik unterrichten könnten.
Soziolog*innen wünschen sich mehr Politik, Ökonom*innen mehr Wirtschaft
Aktuell wird zwar nicht mehr laut über Wirtschaft-Politik gestritten, vom Tisch ist die Kritik aus verschiedenen Fachrichtungen aber nicht. Soziolog*innen wie Reinhold Hedtke, emeritierter Professor für Wirtschaftssoziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld, sehen einen Fokus auf wirtschaftlichen Inhalten und dabei eine gewisse Einseitigkeit. „Das Unternehmer*innenbild wird aufgewertet, die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen werden an den Rand gedrängt“, moniert er.
GEW-NRW-Schulexpertin Frauke Rütter sagt: „Es ist zwar immer noch ein integratives Fach. Aber man sieht eine Verschiebung hin zu unternehmerischen Gesichtspunkten. Und wenn man diese stärker gewichtet, fallen Inhalte aus der Soziologie und den Sozialwissenschaften natürlich weg.“ Bereits vor der Einführung des neuen Fachs habe es in den Sowi-Kursen in der Oberstufe ökonomische Grundbildung gegeben, auch Themen wie der europäische Finanzmarkt seien behandelt worden. Verbraucher*innenbildung sei ebenfalls abgedeckt gewesen. „Meiner Meinung nach war das schon sehr ausgewogen“, betont sie.
Wirtschaftswissenschaftler*innen wie Nils Goldschmidt, Professor für Kontextuale Ökonomik und Ökonomische Bildung an der Universität Siegen, kritisieren derweil nach wie vor ein Übergewicht politischer Themen. Noch immer fehle im Unterricht eine echte ökonomische Perspektive: „Schüler*innen müssen verstehen, wie marktwirtschaftliche Prozesse verlaufen. Wir müssen ein Verständnis dafür schaffen, warum Fragen von Ökonomie so zentral sind, wenn wir unsere Gesellschaft gestalten wollen.“ Einig sind sich die Professoren darin, dass Wirtschaft und Politik im Integrativfach gleichberechtigt vertreten sein sollten.
„Schüler*innen müssen verstehen, wie marktwirtschaftliche Prozesse verlaufen. Wir müssen ein Verständnis dafür schaffen, warum Fragen von Ökonomie so zentral sind, wenn wir unsere Gesellschaft gestalten wollen.“
Denkweisen für eine fundierte Meinungsbildung stärken
Volkswirt Nils Goldschmidt argumentiert weiter: Die Finanzierung unserer Sozialsysteme, von der Kindergrundsicherung bis zur Rente, aber auch der notwendigen ökologischen Transformation seien im Wesentlichen ökonomische Fragen. „Und es sind Themen, die gerade für die kommende Generation wichtig sind. Ich halte es für fatal, dass wir das so wenig zum Bestandteil unserer Schulausbildung machen.“ Dabei geht es ihm nicht prioritär um konkrete Inhalte. „Wir müssen Denkweisen stärken“, fordert er. Um sich beispielsweise eine fundierte Meinung zur Globalisierung zu bilden, sei neben der politischen die wirtschaftliche Sicht nötig. Ökonomisches Wissen sei zudem eng mit dem Bestand der Demokratie verbunden. „Ein Grund dafür, dass Menschen demokratiekritisch werden oder sich demokratiekritischen Parteien zuwenden, ist das Gefühl ungerechter Verteilung“, erklärt er.
Nils Goldschmidt kann sich vorstellen, Wirtschaft und Politik auch separat unterrichten zu lassen. Alternativ plädiert er für Teamteaching: Dabei würde das Integrativfach von zwei Lehrkräften aus den jeweiligen Fachrichtungen unterrichtet. Fest steht für ihn aber auf jeden Fall: „Wir brauchen anders ausgebildete Lehrer*innen.“ Bisher sei der Anteil an wirtschaftlichem Fachwissen im Studium zu gering. Der Ökonom hält daher auch Einfachlehrkräfte mit einem Studium der Wirtschaftspolitik für denkbar. „Dann haben wir gut ausgebildete Politik- und Wirtschaftswissenschaftler*innen in einer Person.“
Gesellschaft und Recht kommen zu kurz
Unterdessen mahnt Reinhold Hedtke, in den Lehrplänen für die Schulen nicht nur auf Überschriften, sondern auch auf Details zu schauen. Dann stelle man fest: „Das ökonomische Lernen genießt Vorrang.“ Er gibt zu bedenken: „Es gibt allein ungefähr drei Schulwochen für Berufsorientierung. Das ist sinnvoll, aber das muss man einberechnen, das ist doch ökonomische Bildung.“ Der Soziologe kritisiert zudem eine unzureichende Vermittlung gesellschaftlichen Wissens im Fach Wirtschaft-Politik: „Schüler*innen lernen überhaupt nicht, wie Gesellschaften funktionieren, wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist, was Gesellschaften zusammenhält und was sie auseinandertreibt. Das ist ein unglaubliches Defizit.“ Darüber hinaus enthielten die Lehrpläne für das Integrativfach kaum juristische Grundkenntnisse: „Dabei ist Recht so wichtig: Unser ganzes Alltagsleben ist davon durchdrungen.“
Reinhold Hedtke stellt ferner infrage, ob das wirtschaftliche Wissen von Schüler*innen tatsächlich so schlecht ist, wie oft behauptet werde. Zusammen mit Simon Niklas Hellmich veröffentlichte er 2023 die Studie Wirtschafts- und Finanzwissen, der zufolge viele Wissenstests von Akteur*innen der Finanzbranche initiiert wurden. Ein Vergleich von Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftswissen fehle aber.
„Noch mehr Wirtschaft in den Lehrplänen blockiert innovative Bildungskonzepte, hemmt die Weiterentwicklung der Schulen und verhindert die Aufnahme ganz neuer Wissensgebiete und Kompetenzen.“
Welche Bildung brauchen Kinder und Jugendliche?
Eigentlich will der Soziologe aber weg von dem Gerangel um Wirtschaft und Politik. „Diese Debatte ist überholt und von vorgestern. Wir müssen heute viel grundsätzlicher denken: Was brauchen Kinder und Jugendliche eigentlich an Bildung? Was fehlt im Kern im Stundenplan? Es gibt ganz andere Defizite, die wir angehen müssen.“ So könne man auch fragen, warum es kein Fach Technik, kein Fach digitale Kompetenz, kein Fach Gesundheit oder kein Fach Nachhaltigkeit gebe. „Noch mehr Wirtschaft in den Lehrplänen blockiert innovative Bildungskonzepte, hemmt die Weiterentwicklung der Schulen und verhindert die Aufnahme ganz neuer Wissensgebiete und Kompetenzen“, betont er. Der Bielefelder Wissenschaftler wünscht sich generell einen viel weiteren Blick. Sein Appell lautet: „Nutzt Schule als einen Ort der Demokratie, an dem junge Menschen aus unterschiedlichsten Schichten, Kulturen und politischen Lagern darüber sprechen, wie sie Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zukünftig gestalten wollen. Das kommt mir viel zu kurz.“