Der Film „Systemsprenger“ berichtet über Schüler*innen, mit denen Systeme wie Schule und Jugendhilfe nicht klarkommen. Kommen solche Fälle vor? Ist das ein realistisches Szenario?
Uwe Riemer-Becker: Wie in jedem guten Film ist die Geschichte schlüssig verdichtet. Ja, es gibt Kinder wie das neunjährige Mädchen Benni, für die alle pädagogischen Maßnahmen ausgeschöpft werden und nicht fruchten. Diese Kinder haben große Not und suchen Verlässlichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes ein Zuhause.
Die Hilfseinrichtungen sind überfordert, nicht nur weil sie unbeschreiblich überlastet sind, sondern auch sektoriert arbeiten. Das ist oft auch in der Realität so: Jede Einrichtung hat ihren eigenen Zuständigkeitsbereich, der dem Hilfebedarf nicht umfassend gerecht wird. Benni wird auf das Zuständigkeitskarussell gesetzt und weitergereicht. Symptomatisch spricht sie im Film ihre Gegenüber lange nur mit deren Berufsbezeichnungen an: „Hey, Erzieher“, sagt sie zu ihrem Schulbegleiter Micha.
Du berätst Schulen und Lehrer*innen auch im Umgang mit Unterrichtsstörungen und schwierigen Schüler*innen. Sind Strategien des Films aus der Praxis bekannt und sinnvoll in der Praxis anzuwenden?
Uwe Riemer-Becker: Zwei hilfreiche Hauptlinien werden inklusive ihrer schwierigen Bedingungen gezeigt: Die regelmäßigen Absprachen zwischen den Beteiligten und das Vertrauen Aufbauen durch feste Bezugspersonen; im Film sind das der Erzieher Micha und Frau Bafané vom Jugendamt.
Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind die Schlüssel der pädagogischen Arbeit: das durchgängige Anbinden an eine feste Bezugsperson, die geradlinig, ehrlich und robust mit dem Mädchen umgeht. Im besten Fall wird das in einer 1:1-Betreuung in einer alltagsfremden Umgebung aufgebaut. Im Film zieht Erzieher Micha, den sie später dann auch mit seinem Namen anredet, deshalb für einige Zeit mit Benni in eine Waldhütte. Die Maßnahme scheitert dennoch, weil die Nachsorge mangelhaft bleibt. Wie in der Realität vereiteln Zeit- und Personalmangel den Erfolg.
Für Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen ist ein Film wie „Systemsprenger“ natürlich besonders interessant. Was können Institutionen davon lernen?
Uwe Riemer-Becker: Bennis Herzenswunsch ist, bei ihrer Mutter zu leben, die davor aber immer wieder panisch zurückschreckt. Im Film fehlt das Einbinden der Mutter und der Geschwister von Benni. Nur wenn der gesamten Familie geholfen wird, wird dem Mädchen geholfen.
Zur unabdingbaren professionellen Rollenklarheit und Abgrenzung gibt es im Film prägnante Szenen: Das Mädchen wirft sich vor der Waldhütte dem Erzieher Micha an den Hals und ruft: „Das ist der schönste Urlaub, den ich je gemacht habe!“ Micha klärt die Fronten, indem er antwortet: „Das ist kein Urlaub, das ist eine Erziehungsmaßnahme.“
Es gibt jedoch massive Probleme, als Micha das Mädchen in sein Privatleben einlässt, indem er es zweimal bei sich übernachten und seine Familie kennen lernen lässt. Auch die Betreuerin des Jugendamtes und eine Pflegemutter geben sich alle erdenkliche Mühe mit Benni und beide scheitern mit und an ihren Emotionen. Hier wird überdeutlich: Jeder betreuende und helfende Mensch braucht nicht nur eine stabile, empathische Persönlichkeit, sondern auch dauerhafte Supervision, kollegialen Austausch und ein erfülltes Leben außerhalb des Berufs. Professionalität heißt auch die Balance halten zwischen dem Mitgefühl mit Bennis Ängsten und dem Einschätzen, inwieweit das Mädchen manipulativ auf der Klaviatur des sozial erwarteten Verhaltens spielt.