lautstark. 04.11.2024

Mein Körper gehört mir!

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Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung

Die UN-Kinderrechtskonvention, die Menschenrechte und auch das Grundgesetz schützen Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch und schreiben ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung fest. Wie können Pädagog*innen in Kita, Schule und Jugendhilfe Heranwachsende stärken?

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2024 | Kinderrechte – Lasst uns mitreden!
  • Autor*innen: Sonja Blattmann und Karin Derks
  • Funktion: Künstlerinnen und Gründerinnen des MuT-Zentrums für Gewaltprävention
Min.

Was bedeutet körperliche Selbstbestimmung?

Das körperliche Selbstbestimmungsrecht ist fest verankert in unserem Grundgesetz und gehört zu den Menschenrechten, die auch für Kinder und Jugendliche gelten. Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ist ebenso ein Menschenrecht. Es gilt in Deutschland für Menschen ab 14 Jahren. Ein Kind ist wegen seines Alters nicht in der Lage zu erfassen, was es bedeutet, in sexuelle Handlungen einzuwilligen und danach zu handeln. Deswegen sind sexuelle Handlungen an Kindern und sexualisierte Gewalt strafbar. Weil Kinder besser geschützt sind, wenn sie sich mit ihrem Körper auskennen, ist es wichtig, dass sie in ihrem nahen Umfeld, ihren Familien und den pädagogischen Einrichtungen von Anfang an erleben, dass sie Körperrechte haben und diese respektiert und gewürdigt werden. 

Worüber sollen Kinder im Blick auf ihren Körper selbst entscheiden dürfen?

Bereits Babys signalisieren ihren Widerstand, indem sie sich wegdrehen, sich steif machen oder schreien. Bezugspersonen, die diesem Widerstand mit Achtsamkeit begegnen, bestätigen bereits auf einer unbewussten Ebene das Baby und dessen Bedürfnisse. Kinder haben einen angeborenen Autonomietrieb. Nutze diesen frei nach dem Motto: „Hilf mir, es selbst zu tun!“ Der Alltag bietet hierfür unzählige Möglichkeiten: Lass Kinder beim Essen selbst herausfinden, was schmeckt und was nicht. Essen sollte nicht mit Zwang verbunden werden. Lass Kinder beim Wickeln und später beim Toilettengang so viel wie möglich mithelfen. Das sind nur drei Alltagsbeispiele für die Achtsamkeit gegenüber Körperrechten von Anfang an. Das Recht auf Selbstbestimmung beim Berühren, Kuscheln und Küsschengeben ist hierbei von größter Bedeutung. 

Wie gelingt es, Kinder in ihren Körperrechten zu stärken?

Kinder mit einer positiven Ich-Stärke haben mehr Selbstvertrauen. Sie schützen das, was sie schätzen. Mit diesen Ich-Botschaften entwickeln Kinder ein starkes Selbstwertgefühl:

  • Mein Körper gehört mir.
  • Ich vertraue meinem Gefühl.
  • Ich kann Ja-Gefühle von Nein-Gefühlen unterscheiden.
  • Ich darf Nein sagen und meine Grenzen setzen.
  • Wenn jemand zu mir Nein sagt, höre ich auf.
  • Ich kann helfen und Hilfe holen.
  • Ich kenne den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen.
  • Niemand darf mir Angst machen oder mir weh tun.
  • Wenn meine Körpergrenzen verletzt werden, bin ich nicht schuld.
  • Mein Körper ist einzigartig und gut, so wie er ist.
  • Mein Körper kann tolle Sachen. 

Sichere Grundlage: Rechte- und Schutzkonzepte

Rechte- und Schutzkonzepte schützen Kinder und Jugendliche systematisch vor sexualisierter Gewalt. Die Landesfachstelle Prävention sexualisierte Gewalt (PsG.nrw) unterstützt Bildungsträger*innen dabei, ein solches Konzept zu entwickeln und zu implementieren.

Zu einem Rechte- und Schutzkonzept gehören:

  • die Analyse von Risiken und Schutzfaktoren,
  • strukturelle Veränderungen,
  • Absprachen und Vereinbarungen sowie
  • eine gemeinsame Haltung und eine schützende Kultur.

Rechte- und Schutzkonzepte sind also ein Bündel von Maßnahmen, die alle Ebenen einer Organisation betreffen. Erarbeitet werden die Maßnahmen gemeinsam mit allen Mitarbeitenden, Eltern, Kindern und Jugendlichen. Die PsG.nrw vermittelt Dachverbänden und Bildungsträger*innen Wissen darüber, warum ein solches Konzept so wichtig ist, was es genau beinhaltet, wie es wirkt und welche Unterstützung für eine Umsetzung notwendig ist. Örtlichen Träger*innen vermittelt die PsG.nrw bedarfsgerecht regionalspezifische Angebote.

PsG.nrw: Materialsammlungen, Checklisten und Kontakte:
psg.nrw/rechte-und-schutzkonzepte

Welches Wissen und welche Haltung brauchen Pädagog*innen, um Kinder bestmöglich in ihrer körperlichen Selbstbestimmung zu unterstützen?

Wichtig ist der Erwerb eines Standardwissens aus den Bereichen Kinderschutz, Prävention und sexuelle Bildung, gepaart mit einer Haltung, die sich durch ein freudiges Interesse an stetiger Selbstreflexion zeigt. Das bedeutet für Pädagog*innen:

  • Ich befasse mich mit meiner eigenen Biografie und reflektiere sie.
  • Ich bin mir meiner Rolle bewusst und kann mich, meine Methoden und mein Verhalten reflektieren.
  • Ich habe selbst eine Sprache für Sexualität und kann mein Wissen altersgerecht vermitteln.
  • Ich kenne Dynamiken von sexualisierter Gewalt und weiß, was bei einer Vermutung zu tun ist.  
  • Ich kann als kompetente Vertrauensperson Hilfe organisieren. 

Inwiefern unterscheiden sich Präventionsarbeit und sexuelle Bildung in den unterschiedlichen Altersgruppen?

Kindliche Sexualität unterscheidet sich deutlich von jugendlicher und erwachsener Sexualität. Das meiste, was wir in unserem Leben über Sexualität wissen, ist erlernt und nicht angeboren. Nur deshalb gibt es überhaupt eine Sexualpädagogik. Das Lernen betrifft also alle Altersstufen von Anfang an. Kitakinder lernen spielerisch und angstfrei wichtige Inhalte zu ihren Gefühlen und Grenzen, ihrem Körperwissen und ihren Körperrechten. Sie lernen Regeln für Körpererkundungsspiele und können jedes einzelne Körperteil inklusive der Genitalien korrekt benennen. Bei Grenzverletzungen können sie selbst Grenzen setzen, helfen und oder Hilfe holen. Grundschulkinder erweitern ihr Wissen zu unterschiedlichen Gewaltformen. Mobbing und sexuelle Übergriffe nehmen in dieser Altersgruppe meist zu. Kinder öffnen sich eher und suchen Hilfe. Hotspots von Grenzverletzungen sind dabei oft der Schulhof und die Toiletten. Es liegt in der Verantwortung der pädagogischen Einrichtungen, sichere Ort zu schaffen und genügend Ressourcen in Sachen Hilfesystem zur Verfügung zu stellen. Mit dem steigenden Alter der Kinder und Jugendlichen erweitert sich das Recht auf Partizipation und Mitbestimmung.Wichtig wird die Meinungsbildung in den Bereichen der sozialen Medien und der digitalen Welten, denn sexualisierte Gewalt findet zunehmend auch dort statt. 

Gibt es grundsätzliche Gelingensbedingungen für Prävention und sexuelle Bildung, unabhängig vom Alter?

Ein Schlüssel für die sexualpädagogische und präventive Arbeit in jedem Alter heißt: gegenseitiger Konsens. Er gilt als Grundlage und Ziel aller neuen Erfahrungen. Dazu gehört auch, Vielfalt auf allen Ebenen als das neue Normativ zu begreifen. Egal mit welcher Altersgruppe du arbeitest, bedenke: Angebote können immer aufdeckende Wirkung haben. Deswegen gilt grundsätzlich: keine Prävention ohne Intervention. Deshalb sollten alle Pädagog*innen vertraut sein mit dem Schutzkonzept ihrer Einrichtung (→ Seite 29) und genau wissen, was bei einem Verdacht zu tun ist – und auch, was nicht zu tun ist. Achte außerdem darauf, dass Infos zu Hilfestellen barrierefrei zur Verfügung stehen. Prävention gelingt, wenn es nicht nur Angebote für Kinder gibt, sondern in erster Linie gezielte und regelmäßige Bildungsangebote für Eltern und das Team oder Kollegium. 

Gibt es Methoden, die Sie besonders gern für die Arbeit mit jüngeren Kindern empfehlen?

Als MuT-Zentrum, das steht für: Musik und Theater – Zentrum für Gewaltprävention, arbeiten wir sehr gerne und erfolgreich mit Musik und Theaterelementen, zum Beispiel mit Rollenspielen. Wichtige Präventionsbotschaften verankern wir seit vielen Jahren mit unserem Kinderschutz-Rap. Er ist praktisch ein Minipräventionskonzept und enthält die fünf Schutzbotschaften zu den Themenbereichen: Gefühle, Grenzen, Geheimnisse, Helfen und Hilfe holen sowie Körperrechte. Zu jeder Schutzbotschaft gibt es passende Bewegungsabläufe. Studien zeigen, wie wichtig Musik, Rollenspiele, Theater und Bewegung speziell in der Gewaltprävention sind. Diese Methoden sind nachhaltig, weil sie sich im ganzen Körper verankern und noch Jahre später erinnert werden können. Bilderbücher sind ein weiteres dankbares Transportmittel. 

Und was funktioniert gut für ältere Kinder oder Jugendliche?

Jugendliche schätzen es, wenn sie mit ihren Fragen, Wünschen und Bedürfnissen abgeholt werden. Unterstützen können Rollenspiele, der Einsatz von Medien, kreative Methoden wie der thematische Krabbelsack* oder Skalierungsübungen – alles, was hilft, Fragen zu stellen und unaufgeregt über aufregende Themen zu sprechen. Lade dir Fachkräfte aus den speziellen Beratungsstellen in deiner Region ein! Jugendlichen fällt es so leichter, sich zu öffnen und Hilfe zu holen.

*Ein thematischer Krabbelsack wird befüllt mit Gegenständen aus dem Bereich der Jugendsexualität, etwa einem Schwangerschaftstest, einem Kondom, einem Tampon, Herzen oder spezifischen Karten. Jede Person zieht einen Gegenstand und erzählt, was ihr dazu einfällt.

Was sind die wichtigsten Tipps für Pädagog*innen, wenn sie die Vermutung haben, die körperliche Unversehrtheit eines Kindes ist in Gefahr?

  1. Bewahre Ruhe.
  2. Informiere die Leitung.
  3. Signalisiere dem Kind, dass du da bist. Das Kind entscheidet, was, wann und wem es etwas erzählt.
  4. Mach präventive Angebote für die ganze Gruppe.
  5. Arbeite zu guten und schlechten Geheimnissen und dem Recht auf Hilfe.
  6. Nimm das betroffene Kind nicht nur mit der Betroffenenbrille wahr, sondern bestätige es in seiner Stärke.
  7. Hole dir selbst Hilfe und vertraue auf deine Fähigkeiten, Hilfe zu organisieren.
  8. Sei selbst die Person, die du als Kind gebraucht hättest. 

Kostenlose E-Learning-Fortbildung 

Kompetente Vertrauenspersonen wissen Bescheid: Die unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung bietet eine kostenlose E-Learning-Fortbildung an. Sie richtet sich an Lehrkräfte und andere schulische Beschäftigte wie Erzieher*innen, Mitarbeiter*innen der Schulsozialarbeit oder des Schulpsychologischen Dienstes. Teilnehmende erhalten am Ende des zwei- bis vierstündigen digitalen Grundkurses Was ist los mit Jaron? ein Zertifikat, das bundesweit anerkannt wird.

Infos und Anmeldung zum digitalen Grundkurs unter:
was-ist-los-mit-jaron.de