Krisen beinhalten von ihrem Wesen her vielfältige Zumutungen, haben aber zugleich Aufforderungscharakter zu einer grundsätzlichen Veränderung. Diese zu erreichen, ist keine leichte Aufgabe, denn im Feld der Bildungspolitik tragen so viele Akteur*innen wie in keinem anderen Politikfeld Verantwortung, wie kürzlich Thomas de Maizière im Podcast „Die Schule brennt“ von Bob Blume angemerkt hat. Aktuell gibt es viele gut begründete Reformvorschläge, zum Beispiel den Appell „BILDUNGSWENDE jetzt!“ oder auch die Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK). Woran es allerdings noch fehlt, das ist der Mut der politisch Verantwortlichen, die Grundfesten des Mehrebenensystems Schule mit Veränderungsbereitschaft infrage zu stellen und neu aufzustellen.
Eine Politik der Gleichverteilung sorgt nicht für Chancengleichheit
Dass es eher die Stadtstaaten sind, die als Reallabore für den gesellschaftlichen Wandel als Blaupausen herhalten können, ist kein Zufall, denn dort reduziert sich gegenüber den Flächenländern die Komplexität der Steuerung. Sie sind aber vor allem deswegen besonders interessant, weil dort die Pluralität der Gesellschaft schneller, sichtbarer und konzentrierter voranschreitet. Hamburg gilt in diesem Zusammenhang bisher als das einzige Bundesland, in dem das konsequente, agile datengestützte Steuern und Unterstützen der Schulen mit Blick auf die Kompetenzentwicklung vorsichtige Erfolge zeigt.
Zugleich konnte man dort pikanterweise für die Zeit der coronabedingten Schulschließungen nachweisen, dass Schüler*innen in bürgerlichen Stadtteilen ihre schulischen Kompetenzen sogar hatten steigern können. Anders ausgedrückt: Diese Kinder entwickeln sich auch (fast) ohne Schule. Demgegenüber sind die Kompetenzen der Schüler*innen in den Stadtteilen mit hohen sozialen Herausforderungen eingebrochen. Mehr Chancengleichheit lässt sich hier über eine Politik der Gleichverteilung offensichtlich nicht erzielen.
Schulen in sozial deprivierten Stadtteilen, von denen es in den Ballungszentren in NRW überproportional viele gibt und die zudem häufig in desolaten baulichen und technischen Zuständen sind, müssen eine pädagogisch gänzlich andere Arbeit leisten als solche in den bürgerlichen Vierteln, wo Eltern sehr genau wissen, wie sie ihre Kinder in der Gesellschaft erfolgreich platzieren.
Sozialindizes funktionieren nur mit angemessenen Ressourcen
Wissenschaftlich lassen sich diese Unterschiede zwischen den Schulen, die mit der Chance auf Kompetenzentwicklung eng zusammenhängen, mittlerweile sehr gut sichtbar machen. Das Instrument dafür ist ein Sozialindex, wie er in einigen Bundesländern – auch in NRW – bereits vorliegt oder gerade entwickelt wird. Auch einzelne Kommunen richten ihre Politik an Sozialindizes aus: München beispielsweise tut dies neben dem Schul- auch im Kitabereich.
Mit flexiblerer Qualifizierung dem Lehrkräftemangel entgegenwirken
Als großer Treiber der Krise wirkt sich zudem der Lehrkräftemangel aus. Und auch hier erheblich stärker an Schulen in sozial deprivierten Stadtteilen. Dort, wo die pädagogische Arbeit am notwendigsten ist, ist die personelle Ressource besonders knapp. Zudem sind in NRW viele Lehramtsstudierende als Vertretungslehrkräfte tätig, denn die Seiteneinsteiger*innen, die NRW seit einigen Jahren berufsbegleitend qualifiziert, decken den zusätzlichen Bedarf keinesfalls.
Dass in Schulen bereits diejenigen tätig sind, die diesen Beruf später auch ergreifen wollen, ist in Krisenzeiten verständlich. Allerdings sind die dadurch im System auftretenden Widersprüche nicht mehr zu übersehen: Während die Qualifizierung der Lehrkräfte in NRW detailreich überreguliert ist, werden voll ausgebildete Lehrkräfte derzeit auch jenseits ihres Lehramts an Schulen eingesetzt, zum Beispiel Gymnasiallehrkräfte an Grundschulen.
Seiteneinsteigende in der Pädagogischen Einführung (PE) unterrichten parallel zu ihrer berufsbegleitenden pädagogischen Kurzzeit-Qualifikation von nur einem Jahr ebenso an den Schulen in NRW wie Studierende, die gerade mal die ersten Bachelorsemester hinter sich haben und häufig jenseits ihres schulformbezogenen Qualifikationszieles beschäftigt werden. Diese Realitäten legen den Gedanken nach mehr Flexibilität in der Qualifizierung von Lehrkräften nahe.
Auch angesichts der demografischen Schrumpfung sowie des schlechten Rufs des Lehrer*innenberufs bei der nachwachsenden Generation scheint dies dringend geboten. Ansatzpunkte zu mehr Flexibilität sind kein Hexenwerk und sollten zudem dauerhaft verschiedene, professionell angemessene reguläre Wege in den Beruf zulassen:
Stufenlehramt statt Schulformlehramt, Ein-Fach-Lehrkräftebildung als Option verbunden mit einer auf ein zweites Fach zielenden Fort- und Weiterbildung, universitär getragene Seiten- und Quereinstiegsmasterprogramme für nicht lehramtsqualifizierte Bachelorabsolvent*innen, eine Induktionsphase für Berufsanfänger*innen in Schule, die unterschiedlich qualifiziertes Personal im Einstieg professionalisiert, um nur einige Stichworte zu nennen.
Transformation braucht das Commitment aller Akteur*innen im Schulsystem
Neben der akuten Krise gibt es Transformationsanforderungen an das Schulsystem, die sich unter anderem mit den Stichworten Digitalität, Inklusion oder auch multiprofessionelle Kooperation im Ganztag andeuten lassen und ebenfalls zu bewältigen sind. Die aktuelle kleinteilige Bildungssteuerung gerät zunehmend sichtbar an ihre Grenzen. Wenn ein Weg nicht mehr zum Ziel führt, dann muss man den Weg ändern oder sich gar einen neuen bahnen. Die Richtungsänderung verlangt neben dem entschlossenen Handeln der Landespolitik das Commitment der vielen weiteren Akteur*innen im Schulsystem. Dabei ist eine wandelmutige Umgestaltung des Mehrebenensystems Schule in Richtung Chancengleichheit zumindest meine persönliche Vision.
GEW-aktiv 2023
Jetzt erst recht!
Um die aktuelle Bildungspolitik geht es auch auf der Tagung GEW-aktiv unter dem Motto Jetzt erst recht! am 18. und 19. August 2023 in Neuss.
Erwartet werden rund 250 aktive Kolleg*innen aus den Gliederungen der GEW NRW, die sich während der zweitägigen Veranstaltung auf das neue Schuljahr einstimmen. Das Programm sieht unter anderem ein Plenum unter der Überschrift Gute Bildung – Jetzt erst recht! vor. Es beinhaltet einen Kurzvortrag von Bildungsforscherin Prof. Dr. Gabriele Bellenberg sowie eine Rede der nordrhein-westfälischen Schul- und Bildungsministerin Dorothee Feller. Anschließend findet eine Podiumsdiskussion mit den Gästen statt.