Die Plakate zeigen Pflanzen, die wachsen. „Ich kann mich immer verbessern und werde es weiter versuchen“ ist dort zu lesen und „Ich werde mehr trainieren, bis es mir leichter fällt“ – bestärkende Sätze, die gut zur wertschätzenden Atmosphäre an diesem Montagmorgen passen. Es ist kurz vor elf Uhr; in der Lerngruppe 2D der Mindener PRIMUS-Schule läuft gerade die zweite Trainingszeit des Tages. Die Schüler*innen arbeiten an Aufgaben in Mathe, Deutsch und Englisch – so, wie sie es sich zu Beginn der Doppelstunde ausgesucht haben. Konzentriert brüten sie über Tablets und Arbeitsblättern, nur hier und da ist ein leises Kichern zu hören. Klassenlehrerin Melanie Walter schlägt die Klangschale an und blickt in die Runde. „Mäuseleins, ihr habt noch zwölf Minuten Arbeitszeit – nutzt sie bitte.“
Gemeinsames Lernen in guter Besetzung – eine Ausnahme in Zeiten des Lehrkräftemangels
Seit 2013 ist die PRIMUS-Schule im Mindener Stadtteil Dankersen Teil eines landesweiten Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen. Fünf Modellschulen erproben, wie sich die Arbeit von Grund- und weiterführenden Schulen enger miteinander verzahnen lässt – und wie sich ein gemeinsames Lernen ohne Schulwechsel auf die Leistung und das Sozialverhalten von Schüler*innen auswirkt. Anders als üblich lernen Kinder und Jugendliche an PRIMUS-Schulen jahrgangsübergreifend an einer Schule, von der Klasse eins bis zur Klasse zehn. Die Jahrgänge eins bis drei, vier bis sechs sowie sieben bis neun werden jeweils zu heterogenen Lerngruppen in Klassengröße zusammengefasst. Erst in Stufe 10 kommen ausschließlich Gleichaltrige zusammen. In der 2D lernen Schüler*innen der vierten bis sechsten Klassen gemeinsam. Die heutige Trainingszeit ist gut besetzt – eine Ausnahme in Zeiten von Lehrkräftemangel und damit verbundenen Stundenkürzungen. Melanie Walter und ihr Kollege Alexander Engelhardt geben als Klassenlehrer*innen individuelle Hilfestellungen in den Hauptfächern.
Zeitgleich erklärt ihr Kollege Niels Tryba in einem Nebenraum einer kleinen Gruppe von Schüler*innen die Uhr – „weil noch nicht alle Kinder sicher die Uhr lesen und mit Zeitangaben umgehen können“, sagt Alexander Engelhardt. Der Lehrer für Mathe und Praktische Philosophie trägt Vollbart, Tattoos und bunte Holzperlen an Lederbändern; er geht offen und freundlich auf die Kinder zu. „So, ihr Süßmäuse, ich habe die Selbstdiagnose-Tests dahinten auf den Tisch gelegt – wer mag, kann sich gern bedienen“, ruft Alexander Engelhardt und setzt sich wie selbstverständlich zu seinen Schüler*innen an den Tisch. „Das soziale Miteinander ist hier sehr, sehr wichtig – da kann man auch mal einen Spruch raushauen oder den Schüler*innen lustige Gruppen-Spitznamen geben“, sagt der 40-Jährige. „Am Ende wissen die Kinder, dass wir für alles eine Lösung finden.“
Selbstständig und im eigenen Tempo lernen – das schafft Zeit für individuelle Förderung
Julia, Lotta, Adam und Constantin sitzen eigentlich an unterschiedlichen Tischen. Für die Trainingszeit haben sie sich einen gemeinsamen Platz gesucht. Alle arbeiten mit Gedichten und doch kümmern sie sich jeweils um eine andere Aufgabe. Denn das ist das Prinzip: Kinder und Jugendliche erschließen sich Unterrichtsinhalte weitgehend selbstständig und in ihrem Tempo – bis zur Klasse 9 sogar ganz ohne Noten. Frontalsituationen sind die Ausnahme; lediglich beim Start neuer Themenblöcke und nach Bedarf geben die Lehrkräfte kurze Einführungen. Arbeitsblätter, Lösungen zur Selbstkontrolle und ergänzende Materialien gibt es jeweils in mehreren Schwierigkeitsstufen, in den höheren Jahrgängen digital auf dem Tablet.
In einem Lernplan erhalten Schüler*innen eine Übersicht über ihre Aufgaben und die zu erwartenden Kompetenzen innerhalb eines Unterrichtsbausteins. Zusätzlich führt jedes Kind ein Logbuch: Hier halten Schüler*innen fest, wann sie welche Aufgaben bearbeitet haben; sie setzen sich Ziele und reflektieren das Geleistete. Dazu bekommen sie jeweils eine ausführliche Rückmeldung der Lehrkräfte. „Die Materialien erstellen wir zentral in den jeweiligen Jahrgangsteams, sodass sie dann für alle Kolleg*innen zur Verfügung stehen“, erzählt Frank Hirche. „Das schafft den Freiraum, weiter am Schulkonzept zu arbeiten und die Schüler*innen individuell zu fördern und zu fordern.“
Zeit für Entwicklung und detailliertes Feedback – ohne Noten und Leistungsdruck
Am Besprechungstisch des Schulleitungsbüros sitzt der stellvertretende Schulleiter vor einem Glas mit schwarzem Tee. Der 54-Jährige trägt Jeans und Hemd; die grau melierten Haare hat er zu einem Dutt gebunden. Das Konzept der PRIMUS-Schulen, betont Frank Hirche, sei für ihn die einzig denkbare Art, den Schul- und Unterrichtsalltag zu gestalten. „Ich würde nicht hier arbeiten, wenn ich nicht daran glauben würde. Schüler*innen müssen die Zeit haben, sich zu entwickeln.“ Und dazu gehöre eben auch, einen Großteil der Schulzeit ohne Noten und Leistungsdruck verbringen zu dürfen.
Statt strikter Bewertungsrichtlinien nutzen die Fachkräfte der PRIMUS-Schule Zertifikate, die Schüler*innen am Ende jeder Unterrichtseinheit detailliert Auskunft über ihre fachlichen Kompetenzen und das Arbeitsverhalten geben. Außerdem enthalten sie Lob für besondere Anstrengungen und Hinweise für Verbesserungsmöglichkeiten. „Wichtig ist, dass wir uns am individuellen Leistungsvermögen der Schüler*innen im jeweiligen Fach orientieren – und nicht an der durchschnittlich erbrachten Leistung der gesamten Klasse“, betont Melanie Walter. Gleiches gilt für die Abschlüsse am Ende jedes Themenblocks.
Eine Schule, die Übergänge auflöst und auf längeres gemeinsames Lernen setzt
PRIMUS-Schule Minden
Jahrgangsübergreifend und kompetenzorientiert lernen für den bestmöglichen Abschluss für alle
Julia wird heute in Englisch geprüft. „Komm, wir suchen uns schnell ein ruhiges Plätzchen“, sagt Melanie Walter und ermuntert die Sechstklässlerin, mit ihr das Klassenzimmer zu verlassen. Der Weg führt durch großzügige Flure mit offenen Lernbereichen. Die Wände sind in warmen Farben gestrichen, große Fenster lassen Blicke in die angrenzenden Klassenräume zu. Aus der geöffneten Tür der Nachbarklasse dringt leises Gemurmel. „Das ist ein großer Vorteil des jahrgangsübergreifenden Lernens“, sagt Melanie Walter. „Die Schüler*innen regulieren sich gegenseitig, sodass es selten richtig laut wird.“ Mit einer beherzten Armbewegung öffnet die 34-Jährige die Tür zur Mensa. Sie weist Julia den ersten Platz an einer langen Tischreihe zu und setzt sich auf den Stuhl gegenüber.
Dann stellt sie ihr Tablet auf: in der Mitte des Tisches platziert sie ein Bild, das Julia selbst gemalt hat. „Could you please describe your shop for me?“, fragt die Lehrerin mit Blick auf Julias liebevoll gezeichnete Buchhandlung und wirft ihrer Schülerin ein freundliches Lächeln zu. Aus der Einstiegsfrage entwickelt sich ein lebendiges Verkaufsgespräch über Thriller und Belletristik. Schon nach wenigen Minuten ist Melanie Walter zufrieden. „Thank you – that was really good“, sagt sie und entlässt die Schülerin mit einem ermunternden Nicken. Als gute Englisch-Schülerin habe Julia heute frei über ihr selbst gemaltes Bild sprechen müssen, berichtet Melanie Walter. „Schwächere Schüler*innen haben die Möglichkeit, sich vorher Notizen zu machen und sie zum Test mitzubringen.“ Das trage auch zu einer gelingenden Inklusion bei.
„Alle arbeiten am selben Thema. So kommt es vor, dass ein Sechstklässler mit Förderstatus und eine Viertklässlerin gemeinsam an ein und demselben Material arbeiten – ganz selbstverständlich und ohne Berührungsängste.“ Dank solcher Möglichkeiten könne das jahrgangsübergreifende Lernen vielen Kindern und Jugendlichen die Chance auf den bestmöglichen Abschluss eröffnen, betont Frank Hirche. Das untermauerten auch erste Ergebnisse von Wissenschaftler*innen, die die Arbeit der PRIMUS-Schulen evaluieren: In der Aufbauphase der Mindener Modellschule seien lediglich drei Prozent der Schüler*innen mit Gymnasialempfehlung und sechs Prozent mit eingeschränkter Gymnasialempfehlung in die fünfte Klasse gestartet. „Inzwischen entlassen wir regelmäßig zwischen 50 und 60 Prozent unserer Zehntklässler*innen mit einer Empfehlung für die Oberstufe.“
Demokratie und soziales Miteinander profitieren von gut begleiteten Übergängen
Ein wichtiger Aspekt des Schulkonzepts ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Im Klassenrat entscheiden sie bereits ab der ersten Klasse über Themen, die ihren Alltag betreffen – etwa die Sitzordnung oder Maßnahmen bei Fehlverhalten. Und nicht nur diese aktive Rolle kommt bei den Schüler*innen gut an. So eröffne das eigenverantwortliche Lernen die Möglichkeit, je nach Tagesform an unterschiedlichen Themen zu arbeiten, sagt Mira. „Gerade in der Corona-Zeit war es super, dass wir so schon mit Lehrplänen umgehen konnten: Wir wussten genau, wie man Aufgaben erarbeitet“, erzählt die 15-Jährige. Thadeus (9) ist froh, immer in seinem eigenen Tempo arbeiten zu dürfen.
Und Lotta (15) schätzt das Miteinander und die wechselnden Rollen innerhalb der Klassengemeinschaft: „In der Neun war es teilweise nervig, mit den Siebtklässler*innen in einer Klasse zu sein – aber trotzdem auch total wichtig, um Geduld zu lernen und miteinander klarzukommen.“ Damit Schüler*innen diese positiven Erfahrungen machen können, setzen Frank Hirche und sein Team auf sanfte Übergänge. „Bei uns kann man nicht sitzenbleiben – das macht eine Menge aus“, sagt der stellvertretende Schulleiter. Außerdem plant das Multiprofessionelle Team immer wieder Aktionen mit Kindern verschiedener Lerngruppen: Schüler*innen der Klasse vier, die den Übergang in die neue Lerngruppe gerade hinter sich haben, treffen vor den Sommerferien auf Kinder der Klasse drei.
Das kann den Wechsel erleichtern. Auch Klassenleitungstage zu Beginn des Schuljahres fördern das gegenseitige Kennenlernen. „Außerdem bekommen die übertretenden Schüler*innen Patenkinder, die sich in den ersten Wochen um sie kümmern – das baut viele Ängste ab“, betont Ghangin Murad, Lehrer für Mathe und Projektunterricht. Innerhalb einer Schule könnten sich Lehrer*innen und Fachkräfte des Multiprofessionellen Teams schnell und unkompliziert über die bisherige Laufbahn von Schüler*innen austauschen. Und auch für die Lehrkräfte persönlich seien die Übergänge weniger hart als an anderen Schulen, betont Melanie Walter. „Früher habe ich die Kinder nach der vierten Klasse ins Ungewisse abgegeben. Heute kann ich sie von der ersten Klasse bis zu ihrem Abschluss begleiten.“
Zukunftsweisendes Schulkonzept mit ungewisser Zukunft
Zwar sei die jahrgangsübergreifende Arbeit in großen Lerngruppen oft kräftezehrend. „Wir leisten hier viel Beziehungsarbeit – das ist mit 25 Kindern anstrengender, als es mit 15 wäre“, sagt Melanie Walter. Doch die gute Organisation in den Jahrgangsteams mache vieles leichter – ebenso wie die Aussicht, den Schüler*innen zumindest annähernde Chancengleichheit zu ermöglichen, betont Marie Breuer: „Die Kinder haben keine Hausaufgaben und sind viele Stunden am Tag hier. So, wie wir es machen, geht es zumindest in die richtige Richtung“, sagt die Lehrerin für Mathe und Sport. Die öffentliche Wahrnehmung ist allerdings in vielen Fällen noch immer eine andere. Vor allem der Verzicht auf Noten lasse Eltern teilweise mit Skepsis auf das Konzept blicken, berichtet Frank Hirche – „auch wenn eine Drei absolut nichts darüber aussagt, ob ich Brüche kürzen oder schriftlich dividieren kann“.
Die Mindener PRIMUS-Schule bietet Eltern, Lehrkräften und anderen Interessierten deshalb jederzeit die Möglichkeit, Termine für Hospitationen zu vereinbaren. Dank hartnäckiger Vorstöße in den Seminaren bildet das Kollegium inzwischen erste Referendar*innen aus. Doch der Lehrkräftemangel trifft auch die Mindener PRIMUS-Schule hart – ebenso wie die ungewisse Zukunft. 2022 wurde der landesweite Modellversuch der PRIMUS-Schulen verlängert. Die Mindener Schule wird demnach letztmalig zum Schuljahr 2025 / 2026 Erstklässler*innen aufnehmen. Was dann kommt, ist noch in der Schwebe. „Natürlich hoffen wir, dass das Konzept verstetigt wird und weitere PRIMUS-Schulen gegründet werden dürfen“, sagt Frank Hirche. Es sei sein Traum, Schüler*innen irgendwann auch eine Oberstufe bieten zu können. Doch dafür brauche es eine langfristige finanzielle Förderung: „Eins ist klar: Es geht nicht ohne politischen Willen.“
GEW-Kommentar
Längeres gemeinsames Lernen ist der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit
PRIMUS-Schulen sind ein Lichtblick auf dem langen Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit für NRW. Schüler*innen profitieren von alternativen Lern- und Bewertungskonzepten. Dies belegen die positiven Erkenntnisse aus der bisherigen wissenschaftlichen Evaluation des Schulversuchs. An der PRIMUS-Schule lernen Kinder an fünf Standorten in NRW seit dem Schuljahr 2013 / 2014 in inklusiven, jahrgangsübergreifenden Lerngruppen gemeinsam in einem durchgehenden Angebot von Klasse 1 bis 10. Durch die Verschmelzung von Primarstufe und Sekundarstufe I bleibt zehnjährigen Kindern die frühzeitige Einsortierung in mögliche „Bildungsverlierer*innen“ und potenzielle „Uni-Absolvent*innen“ erspart.
So können sich Bildungsbiografien an der PRIMUS-Schule individueller entwickeln als an allen anderen Schulformen und Brüche vermieden werden. Wenn wir endlich mehr Bildungsgerechtigkeit erreichen wollen, führt kein Weg am längeren gemeinsamen Lernen vorbei. Die GEW NRW fordert deshalb eine gezielte, rechtlich abgesicherte und mit Landesmitteln geförderte Entwicklungs- und Ausbauperspektive für PRIMUS-Schulen, auch über die garantierte Verlängerung des Schulversuchs von zehn auf 13 Jahre hinaus. Zusammenschlüsse von Grundschulen und integrierten Gesamtschulen beziehungsweise Sekundarschulen zu PRIMUS-Schulen sind ein Weg, um mehr Schüler*innen die Chance zu geben, ihre Potenziale bestmöglich zu entfalten. Gründungswillige Kommunen müssen hierbei bestmöglich unterstützt werden.
Frauke Rütter
Expertin der GEW NRW für Schulpolitik