Vor einigen Jahren haben meine Kinder in ihrer Kita an einem Präventionsprojekt zum Schutz vor (sexueller) Gewalt teilgenommen. Ich habe dies bis heute in guter Erinnerung, denn in den darauffolgenden Wochen bauten sie sich bei jeder mehr oder weniger geeigneten Situation vor uns auf, hielten uns den ausgestreckten Arm mit offener Handfläche entgegen und sagten laut: „Halt! Stopp! – Nicht mit mir!“ Sie hatten die Botschaft „Mein Körper gehört mir!“ ziemlich gut verstanden. Es war aber nicht die einzige Wirkung dieses Projekts in unserer Familie: In der Folgezeit argumentierte meine Älteste vor allem so: „Wenn mein Körper mir gehört und die Zähne zu meinem Körper gehören, dann ist es doch auch meine Entscheidung, ob ich meine Zähne putze oder nicht.“ Ich fand das damals schlüssig argumentiert. Bis heute führen wir ähnliche Diskussionen – verstärkt wieder seit Beginn der Pubertät.
Und was hat dieses Beispiel mit Demokratiebildung zu tun? Eine ganze Menge. Denn mehr Selbstbestimmung und demokratische Partizipation von Kindern führen zu frühkindlicher Demokratiebildung. Es geht im Grunde um die Auseinandersetzung mit den Fragen: Was dürfen Kinder in welchem Entwicklungsstadium allein entscheiden? Was dürfen sie mitbestimmen? Und welche Entscheidungen treffen wir als Erwachsene? Die Thematik betrifft nicht nur das Familienleben, sondern taucht in allen anderen Lebenswelten der Kinder auf, so auch in der Kindertagesbetreuung.
Demokratie als Lebensform – Kita als Mikrokosmos
Unter Demokratie verstehen die meisten Menschen vor allem eine Herrschaftsform, dabei bietet der Begriff weitere Zugangsmöglichkeiten. Einer dieser Zugänge ist die „Demokratie als Lebensform“, die der Pädagoge John Dewey begründet hat. Hierbei geht es mehr um das alltägliche, soziale Leben und um die Frage: Wie kann Demokratie im Miteinander erfahrbar gemacht werden?
Der Fokus liegt dabei auf der Mikroebene demokratischer Kultur wie der Familie, der Schule, der Kindertagespflege oder der Kindertagesstätte und somit auch auf der Grundlage allen demokratischen Handelns. Denn wer mit einem Verständnis von Toleranz und Fairness aufwächst, Vielfalt und Solidarität erlebt und Selbstorganisation erlernt, kann auch zukünftig in einem demokratischen System agieren. Kitas und Kindertagespflegestellen bilden hierfür die Basis und bieten den Kindern erste Erfahrungsräume. Und genau aus diesem Grund setzt hier das Projekt „Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung“ (DUVK) strukturell an.
Es ist ein Kooperationsprojekt der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Träger von circa zwei Dritteln (37.600) der rund 56.000 Kindertageseinrichtungen in Deutschland sind, der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Angebote, die von den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege verbandsspezifisch bereitgestellt werden, richten sich dabei vorrangig an pädagogische und nicht pädagogische Fachkräfte, Kindertagespflegepersonen, Eltern und ihre Kinder sowie an Elternvertretungen. Diese Zielgruppen sollen für die Demokratiebildung gewonnen und qualifiziert werden. Sie sollen für Erscheinungsformen von Demokratiefeindlichkeit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sensibilisiert und in einem kompetenten Umgang mit diesen Phänomenen gestärkt werden. Zugleich soll ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung im Bereich der frühkindlichen Bildung geleistet werden.
Kinder haben Rechte – von Geburt an
Demokratiebildung ist eine Kernaufgabe der Kindertagesbetreuung und als solche gesetzlich verankert. Was für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe gilt, gilt auch für die Kindertagesbetreuung und findet sich somit im ersten Satz des Präambel-Paragrafen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wieder: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Des Weiteren heißt es in § 8 Absatz 1 Satz 1: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen.“ Seit 2012 wird das Gesetz zudem ergänzt durch die in § 45 Absatz 2 Satz 3 festgeschriebene Verpflichtung der Träger „[…] zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten“ bereitzuhalten.
Seit die UN-Kinderrechtskonvention 1992 in Deutschland ratifiziert worden ist, gilt, wie in einem einfachen Bundesgesetz geregelt, dass „[…] die Vertragsstaaten [...] dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu(sichern), diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und […] die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“ zu berücksichtigen. Denn Kinder haben eigene Rechte und sind auch von Geburt an Rechtsträger*innen!
Damit ist heute rechtlich unbestreitbar, was lange keineswegs selbstverständlich war. Denn das anthropologische Grundverhältnis hat sich in den letzten Jahren entscheidend verändert: von der existenziellen Abhängigkeit von Kindern und der machtvollen Verantwortung Erwachsener hin zur Anerkennung von Kindern als Menschen mit Rechten von Geburt an, mit Kompetenzen und Ressourcen, sowie als eigene Konstrukteur*innen und Akteur*innen ihrer Lebenswelten.
Kinder teilhaben zu lassen erfordert von Erwachsenen ein (partielles) Abgeben und Teilen von Macht, eine wertschätzende Haltung Kindern gegenüber, dialogische Abstimmungsprozesse und eine Balance zwischen Autonomie beziehungsweise Freiheit der Kinder sowie haltgebender Regeln und Beziehungen.
Partizipation ist ein Bildungsprozess
Neben der kinderrechtlichen Perspektive gibt es aber auch den entwicklungspsychologischen Ansatz. Denn Partizipation begünstigt auch den Erwerb wesentlicher sozialer Kompetenzen. Sie erhöht beispielweise die Konfliktlösekompetenz, fördert Empathie und Kompromissbereitschaft und verbessert die Frustrationstoleranz. Auch fördert sie Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl von Kindern.
Während Kinder in der Kindertagesbetreuung grundsätzlich das Recht haben sollten, alltäglich Demokratie zu erfahren, gestaltet sich die Umsetzung für Erwachsene und Fachkräfte meist schwieriger. Die Erfahrung zeigt, dass viele Erwachsene und Fachkräfte erst einmal für das Anliegen „erwärmt“ werden müssen. Denn hier treffen ganz unterschiedliche Haltungen, Einstellungen und Werte aufeinander. Zudem fehlt es häufig an methodischem Werkzeug und der nötigen Zeit für Veränderung.
Diesen Prozess anzuregen – Kinder mehr und besser zu beteiligen –, haben sich die Wohlfahrtsverbände zur Aufgabe gemacht. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in Kooperation mit dem Bundesverband für Kindertagespflege viele Informationen rund um das Thema Demokratiebildung in der Kita zusammengetragen und für interessierte Fachkräfte online zugänglich gemacht:
- In einer Mediathek kommen Expert*innen in kurzen Videoclips zu Wort.
- Ein dokumentarischer Kurzfilm zeigt, wie Beteiligung von Kindern im Kitaalltag gelingen kann.
- Ein Onlineglossar, das ABC der Beteiligung, beinhaltet aktuell rund 60 Begriffe und bietet eine schnelle Informationsmöglichkeit.
- Verschiedene Arbeitshilfen geben Hilfestellung und Impulse für die Erarbeitung eines Partizipationskonzepts, für Beschwerdeverfahren in der Kita, zur Partizipation von sehr jungen Kindern und zum Übergang von der Kita in die Schule.
Ende 2021 wird zudem unter dem Titel „Frühe Demokratiebildung“ ein E-Learning-Portal eröffnet. Auf diesem können Interessierte an einem Kurs zur Partizipation im Kitaalltag und an einem Kurs zur Entwicklung von Beschwerdeverfahren für Kinder in der Kita teilnehmen.
Ein wichtiges Modul der Kurse ist die Selbstevaluation. Sie soll Interessierten helfen, den Blick auf die Partizipation der Kinder in der eigenen Kita oder Kindertagespflegestelle zu öffnen. Das oft erst mal abstrakte Thema soll für die pädagogische Arbeit konkretisiert und umsetzbar gemacht werden. Die Selbstevaluation soll dazu beitragen, die eigene pädagogische Arbeit wertzuschätzen, Entwicklungsbedarfe zu erkennen und gezielt Maßnahmen ergreifen zu können, die die Qualität der eigenen Arbeit verbessern und die Rechte der Kinder stärker berücksichtigen. Im Rahmen der Evaluation können sich Teilnehmende mit 13 Alltagsthemen selbstkritisch auseinandersetzen. Dabei geht es beispielsweise um das Essen und Trinken, Ruhen, um Kleidung oder um die Partizipation der Kinder in Gremien. Zu jedem Thema gibt es einen Erklärfilm, der vorab in das Thema einführt. Dadurch wird den Teilnehmenden ermöglicht, eine differenzierte Entscheidung zu treffen, bei welchen Alltagsthemen konkrete Verbesserungen erreicht werden sollen.
Wenn kleine Demokrat*innen in die Schule kommen
Was Kinder erfahren und erlernt haben, wirkt sich in der Regel auf all ihre Lebenswelten aus. Dass sie ihr Wissen mit nach Hause bringen und welche Anwendung Demokratie im Familienalltag findet, wurde eingangs bereits erwähnt. Doch was passiert, wenn Kinder, die sich in der Kita beteiligt und in ihren Rechten ernst genommen gefühlt haben, in die (meist weniger demokratisch verfasste) Schule kommen? Welchen nachhaltigen Effekt haben die frühen demokratiebildenden Erfahrungen auf ihr zukünftiges Leben? Diesen Fragen geht das Kooperationsprojekt in den nächsten Jahren vertieft nach und entwickelt Angebote, die den Übergang von der Kita in die Schule partizipativ gestalten sowie Schule und Hort zu demokratischen Orten machen.
Überarbeitete Fassung des Beitrags „Warum die Partizipation von Kindern der Schlüssel zur Demokratiebildung ist – Wenn mein Körper mir gehört und meine Zähne auch, dann ...“ In KiTa BW (2/2020).
Arbeitshilfe
Auf dem Weg zur demokratischen Kita
Der Paritätische NRW hat 2014 die Arbeitshilfe „Kinderrechte stärken!“ erstellt, die Fachkräfte im Elementarbereich darin unterstützt, ein Partizipationskonzept für ihre Einrichtung zu entwickeln. Um den Einstieg in diesen Prozess hin zur partizipativen Kita zu erleichtern, leiten fünf Schritte die Fachkräfte praxisorientiert an. Anregungen für konkrete Beteiligungsmöglichkeiten, Leitfragen und Formulierungsbeispiele für die Erarbeitung des Konzepts bieten praktische Hilfen. Zudem gibt es Antworten auf Fragen wie: Welche Verfahren sind geeignet, um Kinder mit ihren Anliegen zu beteiligen? Wie können Regelungen für Beschwerdemöglichkeiten gefunden werden? Welche Akteure sollten in den Prozess miteinbezogen werden?
Die vom Bundesprojekt aktualisierte Neuauflage der Arbeitshilfe kann bei Ulrike Mättig, Mitglied der Fachgruppe Kinder und Familie des Paritätischen NRW, per E-Mail an ulrike.maettig@ paritaet-nrw.org angefordert oder im Internet heruntergeladen werden.