lautstark. 30.08.2024

Jenseits des Politischen?

MitbestimmungPolitische Bildung

Wie Neoliberalismus unser Denken und Sprechen beeinflusst

Mit Neoliberalismus wird in erster Linie Politik und Wirtschaft in Verbindung gebracht. Wie prägt er aber auch unseren individuellen Alltag und inwiefern ist das politisch?

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2024 | Ökonomisierung – Bildung als Ware?
  • Autor*in: Patrick Schreiner
  • Funktion: Gewerkschafter und Autor
Min.

Wer an Sprache im Neoliberalismus denkt, landet rasch im Politischen – und dort zumeist in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. „Soziale Hängematte“ als abwertender Begriff für den Sozialstaat ist dafür ein Beispiel. Im neoliberalen Sinne positiv besetzt ist der „Freihandel“, der durch Verzicht auf Zölle und Standards Wohlstandsgewinne bringen soll. Und auch die „Reform“ ist ein solcher Begriff, der – seines einst emanzipatorischen Inhalts beraubt – längst für den Abbau von sozialem Schutz steht. Mit Sprache verbindet sich hier ein politisches Programm.

Neoliberale Sprache im Alltag

Es gibt aber auch einen Neoliberalismus jenseits der Politik im engeren Sinne. Und auch er hat seine Sprache. Nehmen wir zum Beispiel den – auch im Deutschen angekommenen – Begriff des „Mindset“. Übersetzt wird er gerne mit „Mentalität“, was aber so richtig nicht passen mag: Mentalität hat kollektivierende, wenn nicht gar ethnisierende Bezüge. Mindset hingegen wird als individuell und gestaltbar verstanden. „Einstellung“ oder „Denkweise“ trifft es besser. „Du musst an deinem Mindset arbeiten“ oder „Das richtige Mindset ist entscheidend für Erfolg“ sind Sätze, die uns in bestimmten Kreisen gern um die Ohren gehauen werden. Man soll also die eigenen Überzeugungen und Denkweisen verändern, um „es zu schaffen“.

Die richtige Einstellung und Weltsicht – und daraus resultierend ein bestimmtes Verhalten – als Voraussetzung für Erfolg. Diese Art des Sprechens geht mit Bildern von sich selbst und von Gesellschaft einher. Wer andere zur Arbeit am Mindset auffordert, sieht eine Bringschuld allein beim Individuum. Teilhabe am Wohlstand gibt es dann nur durch eigene Anpassung und Anstrengung. Das eigene Mindset ist so zu gestalten, dass es veränderlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen gerecht wird. Kritisches Denken ist zwar erwünscht, wenn es Konkurrenzvorteile bringt – aber nur, soweit es sich im Rahmen der herrschenden Verhältnisse bewegt.

Selbst thematisieren, selbst optimieren und selbst darstellen

Allgemeiner formuliert: Der Mensch soll sich selbst thematisieren, also etwa eigene Stärken und Schwächen feststellen. Er soll sich selbst optimieren, also Stärken ausbauen und Schwächen ausmerzen. Hinzu kommt drittens: Der Mensch soll sich selbst darstellen. Schließlich bringt es wenig, sich zu perfektionieren, wenn andere es nicht mitbekommen. Das alles beschränkt sich keineswegs auf das Arbeitsleben. Sei es im Fitnessstudio, in Castingshows, in Promi-Magazinen, in Social Media und beim geschmackvollen Konsumieren: Der Dreischritt aus Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung ist mittlerweile so alltäglich, dass er meist gar nicht mehr auffällt. Selbst das Bildungswesen ist davon erfasst, etwa wenn Menschen Wissen nur um seiner Verwertbarkeit am Markt willen erwerben. Oder wenn bestimmte Fächer und Berufe aufgrund ihrer mangelnden Verwertbarkeit geringer geschätzt werden als andere.

Kunstgeschichte und Astronomie etwa sind in der Konkurrenz um Geld und Anerkennung tatsächlich oft nur von begrenztem Nutzen – ihr Wert liegt woanders. Es hat sich ein ganzer Berufszweig herausgebildet, der beim Selbstthematisieren, Selbstoptimieren und Selbstdarstellen helfen will: das Coaching. Die meisten Coaches sind zwar eher der Kategorie Möchtegern zuzuordnen, sie sammeln in sozialen Medien vor allem die Likes von Ihresgleichen. Andere aber füllen ganze Hallen und leeren dabei die Geldbeutel ihrer Fans. Auf der Suche noch nach dem letzten Quäntchen Selbstoptimierung sind Letztere gefangen zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung – was sie noch stärker in die Arme ihrer Gurus treibt. Deren Botschaft ist dabei immer gleich: „Du kannst es schaffen, wenn du dich nur genug anstrengst; wenn du dich nur genug selbst thematisierst, selbst optimierst und selbst darstellst.“ Was aber eben auch bedeutet: Wer es nicht schafft, ist selbst schuld und hat versagt.

Politik durch die Hintertür

Und damit wird es doch wieder politisch. „Am Mindset zu arbeiten“ bedeutet auch, im neoliberalen Sinne Eigenverantwortung zu übernehmen. Womit diese Formulierung gar nicht mehr weit entfernt ist von Forderungen nach mehr Eigenverantwortung durch Sozialabbau. Zugleich verlangt sie, sich marktkonform zu verhalten und den Kapitalismus nicht zu hinterfragen. Das ist Politik durch die Hintertür. Aus einer solchen Perspektive erscheinen soziale Rechte ebenso absurd wie eine kollektive Interessenvertretung. Demokratische Teilhabe, Mitbestimmung am Arbeitsplatz, Sozialversicherungen oder bezahlbarer Wohnraum beispielsweise sind keine Kategorien, die in diesem Denken irgendwo Platz haben. Gleiches gilt für die gewerkschaftliche Organisierung: Wenn jede*r für das eigene Leben selbst verantwortlich ist, weshalb sollte es dann legitim und zielführend sein, sich zusammenzuschließen? Und das auch noch mit dem Ziel einheitlicher Bezahlung mittels Tarifverträgen, die selbst ernannte „High Performer“ und angebliche „Versager*innen“ gleichbehandeln? 

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