„Das Anerkennungsverfahren für internationale Abschlüsse kann Monate dauern und ist für viele zu aufwendig und zu kostspielig. Deine Berufsjahre als Lehrer*in im Ausland werden dabei nicht berücksichtigt“, weiß Zülfü Gürbüz, der im Leitungsteam des LAMDA – des Landesausschusses Migration, Diversity und Antidiskriminierung der GEW NRW – aktiv ist und betroffene Kolleg*innen seit vielen Jahren berät. Er war Lehrer in der Türkei und kam mit 23 Jahren Mitte der 1990er-Jahre in die Bundesrepublik. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass die Chancen auf einen positiven Bescheid schlecht stehen. „Knapp 70 Prozent der Antragsteller*innen müssen eine Ausgleichsmaßnahme absolvieren oder noch einmal studieren, um wesentliche Unterschiede auszugleichen. Der Anpassungslehrgang kann bis zu drei Jahre dauern“, sagt Zülfü Gürbüz.
Nur ein Fünftel der internationalen Lehrkräfte darf in Deutschland unterrichten
Ob der ausgebildeten Lehrkraft die Anerkennung am Ende gelingt, ist von vielen Faktoren abhängig, zeigt die Studie „Verschenkte Chancen?!“ der GEW aus 2021. Selbst nach Abschluss eines Lehrgangs ist die Quote niedrig. Sie lag zwischen 2016 und 2018 nach GEW-Berechnungen bei neun Prozent, während elf Prozent der Antragsteller*innen eine direkte Anerkennung bekamen. „Ein einheitliches Verfahren existiert nicht. Nach meiner Erfahrung liegt viel im Ermessensspielraum der Sachbearbeitung“, sagt Zülfü Gürbüz. Bislang können sich jährlich nur 500 voll anerkannte Kolleg*innen mit internationalen Abschlüssen an einer deutschen Schule bewerben. Nach Schätzungen der Bildungsgewerkschaft könnten bis zu 1.375 migrierte Lehrkräfte eine volle Lehramtsbefähigung erhalten und das Potenzial zur Unterrichtsversorgung sei noch größer.
Internationale Lehrer*innen als Bereicherung für alle Klassenzimmer und Kollegien
Das Netzwerk „Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW“ schätzt die Anzahl der Lehrer*innen mit internationaler Familiengeschichte an nordrhein-westfälischen Schulen auf rund zehn Prozent. Laut IT.NRW haben demgegenüber 40 Prozent der Schüler*innen an allgemeinbildenden Schulen eine Zuwanderungsgeschichte, an Grundschulen sind es sogar 45 Prozent. „Lehrkräfte aus ganz unterschiedlichen Ländern sind eine Bereicherung für jede Schule. Sie können viel bewirken: bei den Schüler*innen, in der Elternarbeit, in den Lehrer*innenzimmern“, davon ist Annika Simon überzeugt. Als Projektkoordinatorin begleitet sie internationale Lehrkräfte mit Fluchtgeschichte im Programm „Lehrkräfte PLUS“, das Ende 2017 in einer Kooperation der Mercator Stiftung und der Bertelsmann Stiftung, des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSB NRW) und der Landeskoordinierungsstelle der Kommunalen Integrationszentren (LaKI) gestartet ist.
Im Büro von Annika Simon an der Professional School of Education der Ruhr-Universität Bochum laufen alle Fäden zusammen: „Bei uns gehen die Bewerbungen ein, wir koordinieren den Bewerbungsprozess und das gesamte Programmjahr und arbeiten eng zusammen mit drei Bezirksregierungen, mit dem Institut für Deutsch als Fremdsprache und allen relevanten Fachdidaktiken.“ Außerdem steht Annika Simon als Kursleiterin für die pädagogisch-interkulturelle Qualifizierung vor den Teilnehmenden und ist zusammen mit einer Kollegin Ansprechperson für ganz individuelle Fragen. „Wir unterstützen bei Umzügen und der Suche nach einer Kita oder Schule. Wir helfen bei der Kommunikation mit Ämtern und beraten beim Berufseinstieg“, erzählt sie. Das große Engagement des Teams kann Teilnehmerin Rahime Sayın nur bestätigen. Die Biologielehrerin musste nach dem gescheiterten Putsch 2016 und den verheerenden Folgen für den öffentlichen Dienst aus der Türkei flüchten. Seit 2018 ist sie in NRW und möchte wieder in ihrem Beruf arbeiten: „Lehrerin zu sein bedeutet viel für mich. Es ist meine Berufung“, erzählt sie.
„Lehrkräfte PLUS“ bringt internationale Lehrer*innen direkt in den Unterricht
„Lehrkräfte PLUS“ besteht aus vier Programmelementen, die die Teilnehmenden im Laufe eines Jahres durchlaufen: Die Lehrer*innen absolvieren einen Intensivkurs für Deutsch als Fremdsprache und starten parallel dazu ihre pädagogisch-interkulturelle Qualifizierung. „Hier bieten wir den Teilnehmenden spezifisch auf ihre Bedarfe zugeschnittene Kurse an. Wir vermitteln die Besonderheiten des Schulsystems in NRW sowie pädagogische und didaktische Kenntnisse. Dabei möchten wir alle Teilnehmer*innen ermutigen und befähigen, ihren Unterricht eigenständig zu planen und durchzuführen“, erklärt Annika Simon. Fachlich-fachdidaktische Seminare runden das Programm ab. Die internationalen Lehrkräfte werden darin für ihr Unterrichtsfach weitergebildet.
Rahime Sayın hat die Prüfungen gerade hinter sich. Jetzt, im zweiten Halbjahr des Programms, gehen die Teilnehmenden für drei Tage in der Woche fünf Monate lang ins Schulpraktikum. „Ohne „Lehrkräfte PLUS“ hätte ich diese Möglichkeit gar nicht“, erzählt die Biologielehrerin. „Für mich ist die Erfahrung im Unterricht und mit den anderen Lehrkräften sehr wichtig. Ich bekomme so ein Gefühl für die deutsche Schule.“ An fünf NRW-Standorten kann das Programm „Lehrkräfte PLUS“ jeweils 25 Teilnehmer*innen einen Platz anbieten. Die hohen Bewerbungszahlen spiegeln das große Interesse wider: Zehnmal so viele Bewerbungen gehen in Bielefeld, Bochum, Köln, Siegen und Duisburg-Essen ein.
Dabei sind die letzten drei Standorte erst 2020 hinzugekommen, als der Verein Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) die Finanzierung übernahm. „Die Förderphase des DAAD endet dieses Jahr. Wir sind sehr optimistisch, dass unser Programm verlängert und ab Januar 2023 direkt über das Ministerium für Kultur und Wissenschaft in NRW gefördert wird“, erzählt Annika Simon. Das sei ein wichtiges politisches Zeichen und bedeute für das Programm bis 2027 mehr Planungssicherheit als im bisherigen Zweijahresrhythmus.
Perspektiven für die Teilnehmer*innen nach „Lehrkräfte PLUS“
Nach „Lehrkräfte PLUS“ können sich die Teilnehmer*innen im Anschlussprogramm ILF – Internationale Lehrkräfte Fördern weitere zwei Jahre für ihren Berufseinstieg in Deutschland qualifizieren. Im Rahmen des ILF-Programms, das von den Bezirksregierungen koordiniert wird, werden die Lehrkräfte mit 17 Stunden an Schulen angestellt. Finanziert werden diese Stellen durch das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Allerdings könne auch das ILF-Programm lediglich eine Brücke sein, sagt Annika Simon: „Beide Angebote ermöglichen nicht automatisch einen langfristigen Einstieg in den Schuldienst. Nach meiner Erfahrung bleiben Schulleitungen aber dran, wenn sie für Teilnehmende aus unserem Programm einmal einen Praktikumsplatz geschaffen und Mentor*innen dafür ausgebildet haben. Sie haben ein Interesse daran, die Lehrer*innen zu halten. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.“
Der Lehrkräftemangel ist sicher einer davon, das große Plus für die Schulen sei davon aber unabhängig: „Besonders unter den Aspekten der Diversität an Schulen, der Internationalisierung und Mehrsprachigkeit, neuer Berufsbiografien und Lehrpersönlichkeiten sind internationale Lehrer*innen mit und ohne Fluchtgeschichte ein Gewinn“, ist sich die Projektkoordinatorin sicher. So verfolge das Projekt auch das gesellschaftspolitische Ziel, kollektiv geteilte Normalitätsvorstellungen über stereotype Rollen, Aufgaben und Biografiemuster im Lehrberuf zu relativieren und neue Perspektiven auf Ausbildungswegen und Berufsbiografien zu eröffnen. Rahime Sayın möchte für sich herausfinden, ob sie dem Lehrberuf in einem anderen Land gewachsen ist. Die Sprache zu beherrschen ist für sie das Wichtigste: „Ich kann alles auswendig lernen für meinen Unterricht. Aber für die Schüler*innen möchte ich eine gute Atmosphäre schaffen. Also muss ich noch besser Deutsch können.“ Im ILF-Programm plant die Biologielehrerin, ihre Kenntnisse zu festigen, bevor sie entscheidet, ob sie sich auf eine Stelle an einer Schule bewirbt.
Absolvent*innen des Programms „Lehrkräfte PLUS“ können sich auch direkt auf ausgeschriebene Vertretungsstellen oder auf für den Seiteneinstieg geöffnete Stellen bewerben. „Anschlussperspektiven ins Berufsleben werden frühzeitig mitbedacht“, erklärt Annika Simon. „Wir arbeiten schon bei der Auswahl der Teilnehmer*innen mit den Bezirksregierungen zusammen. Sie vermitteln Praktikumsschulen für unser Programm, sodass optimalerweise eine spätere Anstellung an dieser Schule eröffnet werden kann.“
Gleichberechtigung und Standards können Diskriminierung langfristig vorbeugen
Rahime Sayın hat im ILF-Programm Lehrer*innen aus unterschiedlichen Ländern kennengelernt: „Wir haben oft in Gruppen gearbeitet. Dabei haben wir Toleranz und Respekt füreinander gelernt. Das hat meinen Horizont erweitert.“ Für alle sei „Lehrkräfte PLUS“ eine große Chance, wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können. „Viele meiner Bekannten wären auch gerne dabei. Sie haben keinen Platz bekommen“, erzählt sie. Das sei auch einer der Kritikpunkte der GEW NRW, sagt Zülfü Gürbüz: „Das Land muss mit mehr Mitteln für „Lehrkräfte PLUS“ und ILF zusätzliche Plätze schaffen sowie bessere Perspektiven für die Einstellungen im Schuldienst anbieten.
Und es müssten mehr Unterrichtsfächer pro Standort abgedeckt werden.“ Generell befürworte die Bildungsgewerkschaft die Initiativen, sie sehe aber Verbesserungsbedarf bei den Kosten und der Dauer: „Für die Teilnehmer*innen dürfen keine Kosten entstehen. Auch wenn es nur der Semesterbeitrag der Uni ist, stellt er für manche Kolleg*innen eine Hürde dar. Die Fördermöglichkeiten müssen klarer kommuniziert werden. Das fängt schon beim Anerkennungsverfahren an: Dafür gibt es einen Zuschuss auf Bundesebene.“ In einem Antrag beim Gewerkschaftstag der GEW NRW 2022 stellt der LAMDA weitere Forderungen: Die Berufserfahrung der internationalen Lehrkräfte müsse großzügig berücksichtigt werden und das Sprachniveau C1 grundsätzlich als Sprachqualifikation für das Anerkennungsverfahren und die Einstellung von Lehrkräften ausreichen.
Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Änderung im Schulgesetz aus dem Jahr 2020, das nun die Gleichbehandlung von Hochschulabschlüssen in und außerhalb der Europäischen Union festlegt. „Dafür hat sich die GEW NRW schon lange eingesetzt. Nur mit Gleichberechtigung und Standards für alle können wir Diskriminierung langfristig vorbeugen“, ist sich Zülfü Gürbüz sicher. Hoffnung mache in jedem Fall auch, dass die neue NRW-Landesregierung das Thema in ihrem Zukunftsvertrag aufgegriffen hat: „Wir wollen eine Arbeits- und Fachkräfteoffensive einleiten. Dazu gehört eine unbürokratische und schnelle Anerkennung von ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüssen.“
Im Schnitt sind die teilnehmenden Lehrer*innen im Programm „Lehrkräfte PLUS“ 35 Jahre alt. „Sie möchten sich beruflich nicht neu orientieren. Warum sollten sie auch? Sie bringen reichlich Unterrichtserfahrung und Kompetenzen mit. Der Lehrkräftemangel spielt unserem Projekt aktuell natürlich in die Karten. Ich bin aber überzeugt, dass die Förderung und Fortbildung internationaler Lehrer*innen auch dann weitergeführt werden muss, wenn es nicht mehr nur um das Besetzen von Stellen geht“, betont Annika Simon.