„Und plötzlich geht alles digital.“ Diese Schlagzeile auf dem Titelblatt der Zeitschrift Schulwelt hat mich sehr ins Grübeln gebracht. Sie war zumindest ein wirkungsvoller Anlass, die gesamte aktuelle Situation aus einer realistischen Perspektive für unser Schulsystem zu überdenken. Wir als Schule haben wilde Zeiten hinter und vor uns. Als Schulgemeinschaft von 3.000 Schüler*innen und fast 200 Mitarbeiter*innen (Lehrkräfte, Sozialarbeit, Verwaltung, Mensa, Hausmeister) haben wir uns tapfer geschlagen. Haben vieles möglich, aber auch viele Grenzerfahrungen gemacht. An unserem Berufskolleg bilden wir im Lebensmittelhandwerk, im Bereich der Ernährung und Hauswirtschaft, in der Gastronomie und Hotellerie und in vielen sozialpflegerischen und pädagogischen Berufen in dualen und Vollzeitbildungsgängen aus. Unsere Schüler*innenschaft kommt überwiegend aus einkommensschwachen Verhältnissen.
Unsere dualen Ausbildungsberufe bringen sehr außergewöhnliche Arbeitszeiten und Arbeitsbelastungen mit sich. Sehr viele Schüler*innen in den Vollzeitbildungsgängen arbeiten neben der Schule sehr umfänglich, um sich die Ausbildung finanzieren zu können. Darüber hinaus leben viele junge Menschen unserer Schüler*innenschaft in prekären Verhältnissen, teilen sich mit mehreren Geschwistern ein Zimmer, sind Alleinerziehende oder Geflüchtete. 90 Prozent unserer Schüler*innen steht einzig und allein ein Handy als digitales Endgerät zur Verfügung. Mein Thema soll hier aber nicht die Digitalisierung von Unterricht sein, auch nicht der Kampf um und mit digitaler Ausstattung; ebenso wenig die Diskussion darüber, wie sehr digitale Medien das Lernen an sich fördern. Stattdessen möchte ich eine Perspektive auf das Lernen an sich und deren inhaltliche Dimensionen in Zeiten von Covid-19 eröffnen.
Präsenzunterricht prägt das Lerngeschehen
Meine These: Je nach Bildungsgang realisieren wir deutlich über 80 Prozent der wirklichen Lernprogression im Präsenzunterricht. Lernen in der häuslichen und beruflichen Umgebung spielt also eine deutlich geringere Rolle und kann sich im Einzelfall auf nicht unwichtige Reproduktionen, Anwendungen und Übungen beziehen. Was hat also den Unterricht in der Schule bisher zum zentralen und tragenden Lernort gemacht? Warum haben unsere Schüler*innen hier bisher so intensiv gelernt? Was waren Motivatoren, Initiatoren und Stabilisatoren?
- Sozialer Zusammenhalt/intrinsische und extrinisische Motivation: Die Arbeit in der Lerngruppe hat „mitgezogen“, weil im Unterrichtsgespräch unter anderem deutlich wurde, dass ein Thema einfach spannend und persönlich relevant war.
- Strukturierter Alltag: Das Erfahren der formalen Ebene von Schule fördert die Einsicht in die Notwendigkeiten und das Bestreben, negative Sanktionen zu vermeiden.
- Erlebte Gemeinschaft: Gemeinsame formale Ziele (Schul- oder Berufsabschlüsse) entwickeln sich als Gruppenmerkmale („Wir Köch*innen“).
- Verstärkungslernen: Direkte und zeitnahe Kommunikation ermöglicht etwa positive Verstärkungen, Ermunterungen und Wertschätzungen im Schulalltag und im Unterricht.
- Persönlichkeitsentwicklung und Partizipation: Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und eigenem Wachstum im Unterricht und Schulalltag, die durch Schüler*innen-Feedback, als Klassensprecher*innen oder in der Schüler*innenvertretung gemacht werden.
- Direkte Unterstützung und Sicherheit: Klärung von Missverständnissen für alle Schüler*innen, Nachsteuerung bei Aufgabenstellungen, Hilfestellungen bei Zugängen und Verständnisfragen. Geflüchtete Sprachanfänger*innen erhalten simultan Unterstützung im Lernprozess und Zugang zum Unterrichtsinhalt.
- Minimierung von Lernstörungen: Verhaltensauffälligkeiten wie Probleme bei der Selbststeuerung werden durch professionelles pädagogisches Handeln der Lehrkraft oder der Gruppe erkannt, bearbeitet und abgebaut.
Diese Liste ist nur exemplarisch und absolut unvollständig.
Elemente des Präsenzunterrichts auf das Distanzlernen übertragen
Aber können all diese tragenden Elemente aufs Distanzlernen übertragen werden? Unsere Erfahrung nach mehreren Wochen: kaum, wenig, nur in Ansätzen und noch wenig professionell!
Wir haben unter anderem erfahren,
- in welchem mentalen Zustand Kolleg*innen sich befinden, wenn acht Stunden Videokonferenz mit Schüler*innen durchgestanden sind.
- wie hilflos Kolleg*innen sind, wenn Schüler*innen einfach nicht erreichbar sind.
- wie groß der Aufwand ist, wenn man im Distanzlernen 140 Schüler*innen durch zeitnahe und direkte individuelle Rückmeldungen gerecht werden will.
- dass es einen enormen Druck bei Schüler*innen erzeugt, wenn sie technische Anforderungen nicht erfüllen können.
- wie schwierig Absprachen im Lehrer*innenteam sind, wenn man sich nicht mehr automatisch in den Pausen begegnet.
- wie sehr die Lernkurve nach unten zeigt, wenn Schüler*innen isoliert arbeiten sollen.
- wie wenig verstanden, verfestigt und vernetzt Inhalte sind, wenn diese Ergebnisse von Einzelarbeit sind.
- wie Schüler*innen zerrissen werden, wenn die Betriebe keine Rücksicht auf Distanzlernzeiten nehmen (können).
- dass Schüler*innen einfach überfordert sind.
- wie viele Traumata aufgebrochen sind durch die aktuellen Ängste, häuslichen und familiären Bedingungen.
Von der vollständigen Handlung in einer Lernsituation, dem gängigen didaktischen Grundmodell in der beruflichen Bildung, bleibt im Distanzlernen nur ein sehr trauriges Gerüst übrig. Direkte Instruktion im Sinne von dem Pädagogen John Hattie ist digital nicht umsetzbar!
Ein Klassenverband kann nicht einfach digitalisiert werden
Letztendlich kann das Distanzlernen das Lernen im Klassenverband nur zu einem geringen Teil ersetzen und ein Klassenverband kann nicht einfach digitalisiert werden. Wäre dem nicht so, könnten nach Corona alle Schulträger alle Raumprobleme in Schulen elegant lösen.
Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass für das nächste Schuljahr die Ressource Raum das kostbarste Gut ist. Wir werden Klassen halbieren oder sogar dritteln müssen, um die Hygieneregeln einzuhalten. Selbst in einem Schichtbetrieb bedeutet dies zwingend, dass mit der vorhandenen Lehrkräfteressource nur etwa 40 Prozent Präsenzunterricht realisiert werden können.
Realismus statt Formalismus – Entscheidungsräume schaffen
Deswegen kreisen meine Gedanken darum, dass es zwingend und ganz realistisch ist, dass wir uns von der Breite der bisher angestrebten und verpflichtenden Inhalte im nächsten Schuljahr lösen müssen. Da diese aber alle schulrechtlich verankert sind, bedarf es einer schnellen und klaren Entscheidung des Ministeriums. Wir laufen einer Fata Morgana hinterher, wenn wir an unserem Berufskolleg in ein-, zwei- oder dreijährigen Bildungsgängen den Anspruch aufrecht erhalten (müssen), die aktuell curricular verankerte inhaltliche Breite und auch Tiefe ausgleichen, nachholen oder eben dann verlustfrei in das Distanzlernen verlagern zu können. Dies mag an anderen Schulen vielleicht möglich sein. Bei unserer Schüler*innenschaft, die insgesamt sehr engagiert, kooperativ und konstruktiv ist, wird das nicht gehen. Jede Schule ist sehr individuell betroffen. Wie viele Kolleg*innen zum Beispiel aus der Politik-Fachschaft gehören zur Risikogruppe und was bedeutet dies für die Lernkurven in diesem Bereich? Welche Raumsituation und welche Klassenstärken bestehen mit welchen konkreten Folgen?
Deswegen braucht es jetzt Realismus statt Formalismus. Wir brauchen Entscheidungsräume vor Ort, statt in der schulaufsichtlichen Hierarchie, um exemplarisches Lernen anstelle exponierter Standards zu ermöglichen. Die Schulen werden genug damit zu tun haben, die Verknüpfung von Distanz- und Präsenzlernen weiterzuentwickeln, Beziehungen zu Schüler*innen zu halten, zu neuen Schüler*innen aufzubauen und die bestehenden technischen Möglichkeiten (insbesondere seitens der Schüler*innenschaft) angemessen und sinnvoll zu nutzen, um das Leistbare zu leisten.
Dies sind sehr große Herausforderungen. Wenn dem Schulsystem dazu noch die Perspektive aufgebürdet wird „Keine quantitativen und qualitativen Abstriche!“ zu machen, wird so manches Rückgrat brechen bei Schüler*innen und Kolleg*innen.
Klare Signale setzen Kreativität frei
Damit möchte ich nicht das Lied der überlasteten Lehrkräfte anstimmen, sondern für all jene eintreten, für die es zum Selbstverständnis gehört, die Schüler*innen voller Engagement und Pflichtbewusstsein auf das Berufsleben vorzubereiten und in der Ausbildung zu begleiten – aus meiner Perspektive also für unser ganzes Kollegium! Das muss und kann jetzt anders gelingen!
Wenn es im obigen Sinne ein klares Signal gibt, werden auch kreative Kräfte frei, um aus weniger, dann mehr zu machen – im Sinne unserer Schüler*innen. Wenn nicht, bauen wir alle an einem großen Potemkischen Dorf, also einer Illusion. Das macht aber unsere Schüler*innen nicht für die berufliche Zukunft stark und unsere Lehrkräfte macht es krank.
Zurzeit sehe ich noch nicht, dass diese Diskussion von Seiten der Schulaufsicht begonnen worden sind, … aber die Zeit drängt!