Schule 29.11.2024

Kommentar zum Gutachten über das AO-SF-Verfahren

InklusionSonderpädagogikBelastung
  • Autor*in: Susanne Boland, Birgit Dinnessen-Speh, Heiko Rüttermann
  • Funktion: Leitungsteam der Fachgruppe "Sonderpädagogische Berufe"

Vorgeschlagene Verfahrensreform weist interessante Ideen und Schwächen auf

Ob Schüler*innen im Unterricht zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung brauchen, stellen Lehrkräfte in einem AO-SF-Verfahren (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung) fest. Doch dieses Verfahren ist kompliziert, unkoordiniert und teils fehlerhaft. Das zeigt auch das jüngste wissenschaftliche Gutachten, das die Feststellungspraxis eines Förderbedarfs im Auftrag der Landesregierung überprüft hat. Mit konkreten Handlungsempfehlungen soll das System jetzt effizienter und transparenter gestaltet werden. Das Leitungsteam der Fachgruppe Sonderpädagogische Berufe findet: Das Gutachten macht einige gute Vorschläge – es erweckt zum Teil aber einen falschen Eindruck.

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Vorschläge zur Weiterentwicklung des AO-SF-Verfahrens

Acht Handlungsempfehlungen

Das Gutachten zum Wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung gibt der Politik acht Handlungsempfehlungen:

1.    Möglichst präzise Definition für Bedarfe an sonderpädagogischer Unterstützung 

2.    Ausbau von Prävention im allgemeinen Bildungssystem 

3.    Präventionsorientierte Reform der Ressourcensteuerung

4.    Standarisierung und Digitalisierung der Verfahren 

5.    Einrichtung regionaler Expertisestellen für sonderpädagogische Unterstützung 

6.    Ausbau und Weiterentwicklung der phasenübergreifenden Professionalisierung 

7.    Förderung einer Beteiligungs- und Aufklärungskultur

8.    Einrichtung eines Arbeitsplatzbündnisses zur Umsetzung der Empfehlungen

Neudefinition kann für mehr Handlungssicherheit sorgen

Zunächst empfehlen die Wissenschaftler*innen eine möglichst präzise und objektivere Definition für Bedarfe an sonderpädagogischer Unterstützung. Eine Neudefinition der Förderbedarfe erscheint sinnvoll und überfällig. Der gesellschaftliche und wissenschaftliche Fortschritt muss sich hier widerspiegeln. Eine Neudefinition darf dabei aber nicht primär der Vermeidung, sondern vielmehr einer objektiveren Feststellung dienen. Dafür bedarf es weniger allgemeinen Beschreibungen als viel mehr klare und operationalisierte Definitionen. So könnte den beteiligten Kolleg*innen deutlich mehr Handlungssicherheit gegeben werden.

Ausbau von Prävention ist ein wichtiger Beitrag für gelingende Bildung

Die Wissenschaftler*innen empfehlen den Ausbau von Prävention im allgemeinen Bildungssystem. Der Ausbau präventiver Angebote ­­– auch vorschulisch ­­– ist aus Sicht der GEW NRW ein wichtiger Beitrag für gelingende Bildung. Aber hierfür fehlen derzeit sehr häufig die Rahmenbedingungen und die finanziellen und personellen Möglichkeiten. Den im vorschulischen und schulischen Bereich bereits stark überbelasteten Beschäftigten können nicht einfach noch weitere zusätzliche Aufgaben – so wichtig sie sein mögen – aufgebürdet werden, ohne dass sie dabei im Gegenzug von anderen Aufgaben entlastet werden. Der Versuch, über eine präventive Förderung die Zahl der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu verringern, erscheint zwar sinnvoll, ist aber ohne die entsprechenden Ressourcen zum Scheitern verurteilt. Um die erwarteten Effekte im Sinne der Gutachter*innen zu erzielen, müssen die Arbeitsbelastungen in Schule reduziert und Zeit für die Kooperation der verschiedenen an Unterricht und Bildung beteiligten Gruppen geschaffen werden. Nur eng abgestimmte (präventive) Maßnahmen können eine dauerhafte Wirkung erzielen.

Kritik am Gutachten

Hier zeigt sich auch einer der Kritikpunkte an dem Gutachten: Es erweckt an mehreren Stellen den Eindruck, als würden Lehrkräfte und weiteres Personal an Schulen sich nicht intensiv und gedankenvoll mit Unterricht und den einzelnen Schüler*innen beschäftigen und auseinandersetzen.  Es scheint, als würden aus der beschriebenen Belastung heraus vorschnell Feststellungsverfahren beantragt. Vielmehr ist es aus unserer Sicht so, dass die mangelhaften Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Schüler*innen häufig nicht gerecht werden. Es fehlt nicht an Professionalisierung der Kolleg*innen, sondern wie oben dargestellt an den fehlenden Ressourcen. Ebenso kann es aus Sicht der GEW nicht hingenommen werden, wenn das Gutachten den Anschein erweckt, dass Gutachten im Feststellungsverfahren ohne Beteiligung der Betroffenen erstellt werden. Eine solche Beteiligung findet bereits heute statt. Sie wird aber stark beeinflusst dadurch, dass es zum Beispiel oft kaum möglich ist, dringend benötigte Dolmetscher*innen für Elterngespräche einzubeziehen und auch die zeitlichen Ressourcen für teilweise benötigte mehrfache Gespräche fehlen. 

Für digitales Verfahren muss NRW Voraussetzungen schaffen

Die Empfehlung zur Standardisierung und Digitalisierung der Feststellungsverfahren, die auf eine digitalere Gutachtenerstellung abzielt, begrüßen wir. Das alleine kann schon für Entlastung und Vereinfachung sorgen. Wir weisen aber darauf hin, dass die Landesregierung hierzu die rechtlichen und technischen Voraussetzungen schaffen muss, damit die beteiligten Lehrkräfte die Gutachten rechtssicher und datenschutzkonform ausführen können. Auch braucht es die entsprechenden Endgeräte.

Regionale Expertisestellen: Erfolg hängt von konkreter Umsetzung ab

Interessant ist die Idee der Einrichtung von regionalen Expertisestellen, die mehr als eine reine Beratungstätigkeit übernehmen könnten. Je nach Ausgestaltung können solche eine enorme Entlastung für die Kolleg*innen dar- und dabei gleichzeitig eine hohe Qualität der Gutachtenerstellung sicherstellen. Durch Experstisestellen, an denen verschiedene Professionen, vor allem aber auch Lehrkräfte aus allen Schulformen, arbeiten, kann die Gutachtenpraxis vom schulischen Alltag entkoppelt werden und diesen dadurch weiter entlasten. Hier hängt der Erfolg dieses Modells stark von der konkreten Umsetzung ab.

GEW befürwortet Einrichtung eines Arbeitsbündnisses

Als GEW NRW befürworten wir, dass die Forscher*innen die Einrichtung eines Arbeitsbündnisses zur Umsetzung der Empfehlungen vorschlagen. Klar ist, dass nur bei einer Einbeziehung aller Beteiligten aus Bildungspolitik, Schule und Co. in die Prozesse, die Umsetzung von Veränderungen gelingen kann. Dies schließt auch die Personalvertretungen mit ein.

Eine Überarbeitung der Gutachtenpraxis nach AO-SF ist dringend geboten, zur objektiveren Feststellung von sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen der Kinder und Jugendlichen sowie zur Entlastung aller beteiligten Kolleg*innen. Als GEW NRW werden wir den Prozess weiter konstruktiv kritisch begleiten.