Bildungspolitik 12.06.2017

Förderschulen sollen bleiben, Inklusion stagniert

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Förderschulen sollen bleiben, Inklusion stagniert

Parallelsystem erfordert eine Menge zusätzliche Stellen

Noch vor den Sommerferien möchten CDU und FDP den Erhalt der bestehenden Förderschulen absichern und auch diejenigen Schulen vor der Schließung bewahren, die Ende des Schuljahrs auslaufen sollten. Die Parteien stecken mitten in den Koalitionsverhandlungen. Zu den Kernideen zählen der Erhalt aller Förderschulen, die flexible Entscheidung für G8 oder G9, die mögliche Wiedereinführung der Studiengebühren, die Unterrichtsgarantie und die Flexibilisierung der Kitas.

  • Interview: Frauke Rütter
  • Funktion: Referentin für Bildungspolitik der GEW NRW
Min.

Expert*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen geben in einer mehrteiligen Serie konkrete Antworten auf bildungspolitische Fragen aus den Koalitionsverhandlungen und machen deutlich, wo es in der Praxis hakt. Bildungsforscher Klaus Klemm hat in seinem Gutachten „Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen“ das Auslaufen der Schulen mit Förderschwerpunkt Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache (LES) empfohlen. Er baut zudem auf die Zuweisung der Stellen für Sonderpädagogik für LES an die allgemeinen Schulen.

Wie bewerten Sie den Plan der zukünftigen Landesregierung?

In der Tat: Mein Kollege Ulf Preuss-Lausitz und ich haben im Juni 2011 in unserem Gutachten dem Ministerium für Schule und Weiterbildung empfohlen, die Förderschulen mit Schwerpunkt LES im Verlauf des Aufbaus inklusiv arbeitender Schulen auslaufen zu lassen. Kurz danach im Juli entzog der zwischen SPD, GRÜNEN und CDU vereinbarte „Schulpolitische Konsens für Nordrhein-Westfalen“ der Umsetzung unserer Empfehlung den Boden.

In dem Konsens wurde vereinbart, dass von Landesseite keine Schulform abgeschafft wird. Er sollte bis 2023 Bestand haben. Vor diesem Hintergrund kann ich nur feststellen: Die künftige Landesregierung bewegt sich mit der Ankündigung, keine weiteren Förderschulen zu schließen und bereits eingeleitete Schließungen zu stoppen, im Rahmen des Konsenses. Damals habe ich den Konsens mit seiner – was die Schulstruktur angeht – Bestandsgarantie für falsch gehalten, ich tue das auch heute noch.

Sollten die Förderschulen erhalten bleiben, würden sehr kleine Schulen entstehen. Ist das pädagogisch überhaupt sinnvoll? Kann dort qualitativ gute sonderpädagogische Förderung stattfinden?

Ich beantworte diese Frage am Beispiel der Förderschule Lernen: Im laufenden Schuljahr lernen dort in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 der 135 Schulen insgesamt 4.568 Kinder, je Schule im Durchschnitt also 38. Nach der derzeit gültigen Relation Schüler*innen je Stelle – nämlich 9,92 – erhalten diese Schulen für den Unterricht in der Primarstufe 3,4 Stellen. Da in NRW je Stelle der Förderschule Lernen im Schuljahr 2016/2017 im Durchschnitt 21,9 Unterrichtsstunden erteilt werden, stehen der durchschnittlichen Förderschule in der Primarstufe 74,5 Unterrichtsstunden zur Verfügung – je Jahrgangsstufe der Jahrgänge 1 bis 4 also 18,6 Unterrichtsstunden. Da die Stundentafeln für diese Förderschule für die Jahrgangsstufen 1 bis 4 im Durchschnitt 23 Unterrichtsstunden je Klasse vorsehen, fehlen allein schon für den Unterricht nach Stundentafel je Klasse 4,4 Unterrichtsstunden.

Die darüber hinaus erforderlichen Unterrichtsstunden für Klassenteilungen, individuelle Förderung und so weiter sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Tatsächlich ist die Lage an vielen Schulen noch brisanter: Bei den 38 Kindern, die im Rechenbeispiel zugrunde gelegt werden, handelt es sich um Durchschnittswerte. Es gibt eine größere Zahl noch deutlich kleinerer Standorte. Insgesamt heißt das: Wenn das Land keine Förderschulen mehr auslaufen lassen will, müssen im großen Umfang zusätzliche Stellen bereitgestellt werden. Andernfalls wird es mit der Qualität des Lernens in den Förderschulen steil nach unten gehen.

Ein Parallelsystem erfordert mehr Personal – sowohl an den Regel- als auch an den Förderschulen. Steht dieses Personal zur Verfügung? Gibt es genügend Lehrkräfte, um ein Parallelsystem aufrechterhalten zu können?

Wenn der Lehrer*innenbedarf in Förderschulen so gedeckt wird, dass auch in Schulen, die die Mindestgrößen deutlich unterschreiten, ordnungsgemäßer Unterricht erteilt werden kann, erfordert ein Parallelsystem viele zusätzliche Stellen. Dies verschärft ein ohnehin bestehendes Problem: Prognosen zum Einstellungsbedarf, die seitens des Schulministeriums zuletzt in 2011 und der Kultusministerkonferenz zuletzt in 2015 veröffentlicht wurden, sagen gleichermaßen für die Förderschulen einen starken Lehrer*innenmangel voraus. Wobei diese Prognosen vor ein paar Jahren die Bedarfsentwicklung durch Inklusion nur schwach oder noch gar nicht im Blick hatten.

Die künftige Landesregierung – die zumindest an vielen Gymnasien zu G9 zurückkehren will, die den Unterrichtsausfall deutlich senken will, die kleine und kleinste Förderschulen erhalten will – wird die Bildungsausgaben deutlich steigern müssen. Auch wenn sie den erforderlichen Kraftakt stemmt, bleibt ihr das Problem, die bereit gestellten Stellen zurzeit nicht besetzen zu können.

Wer Inklusion will, muss das Etikettierung-Ressourcen-Dilemma überwinden. Ist der Plan der zukünftigen Landesregierung dazu geeignet?

Das Dilemma tritt immer dann auf, wenn die Zuweisung von Lehrkräftestellen an die inklusiv arbeitenden allgemeinen Schulen an die Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gekoppelt ist. Diese Kopplung bietet für die Schulen einen Anreiz, bei Kindern und Jugendlichen einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu diagnostizieren, um auf diese Weise mehr Stellen für Lehrkräfte zu erhalten. Wenn auf diese Weise für Schüler*innen, die individuelle Schwächen oder Behinderungen haben, mehr pädagogische Unterstützung zur Verfügung steht, ist dies fraglos ein Gewinn für den Unterricht.

Es trägt dazu bei, dass die inklusiv arbeitenden Schulen ganz generell stärker ihre lernschwächeren Schüler*innen in den Blick nehmen. Besser wäre es allerdings, wenn die Stellenzuweisung von der Diagnose eines Förderbedarfs abgekoppelt und den Schulen stattdessen eine angemessene Förderressource zugewiesen würde. Wie die künftige Landesregierung dazu stehen wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Die bisher verkündeten Pläne stehen allerdings in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der hier angesprochenen Problematik.