lautstark. 28.06.2024

Ein Plädoyer für jahrgangsübergreifendes Lernen

Längeres Gemeinsames LernenBildungsfinanzierungChancengleichheitSchulleitungBerufskolleg

Bildungsübergänge verstärken Ungleichheiten

Deutschland tut sich seit Jahrzehnten schwer damit, die enge Verbindung von Herkunft und Bildungserfolg aufzulösen. Das gilt auch bei schulischen Übergängen. Schulforscher und Schulpädagoge Matthias Forell, Vertretungsprofessor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, erklärt die Herausforderungen dieser Bildungsübergänge – und wie sie gelingen können.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2024 | Wie Übergänge gelingen
  • im Interview: Dr. Matthias Forell
  • Funktion: Professurenvertretung für Schulpädagogik und Schulforschung an der Universität Hamburg
  • Interview von: Nadine Emmerich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Was sagt die Forschung zu Übergängen – und Ungleichheiten – im Bildungssystem?

Matthias Forell: Zum Beispiel, dass Schüler*innen aus sozioökonomisch und soziokulturell privilegierteren Elternhäusern eher eine Gymnasialempfehlung erhalten als Schüler*innen aus weniger privilegierten Elternhäusern. Je nach Studie ist die Wahrscheinlichkeit, von Lehrkräften für das Gymnasium empfohlen zu werden, für Schüler*innen aus privilegierteren Verhältnissen drei- bis fünfmal höher, selbst unter Berücksichtigung der kognitiven Fähigkeiten. Das ist ein Befund, an dem sich seit Jahrzehnten nichts verändert hat. 

Matthias Forell ist Schulforscher und vertritt seit dem Sommersemester 2024 die Professur für Schulpädagogik und Schulforschung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Er forscht und lehrt unter anderem zu Bildungsübergängen und Bildungsgerechtigkeit.

Unabhängig davon, an welche Schulform ein Kind wechselt: Was ist erforderlich, damit der Übergang gelingt?

Matthias Forell: Schüler*innen haben unterschiedliche Startbedingungen und es ist eine wichtige Gelingensbedingung, diese aufzufangen. Wenn man das Ziel hat, einen nahtlosen Übergang oder einen mit relativ wenigen Brüchen zu gestalten, braucht es eine Zusammenarbeit zwischen den Grund- und weiterführenden Schulen, gemeinsame Projekte oder sogar Übergangsprogramme. Ein weiterer Faktor ist die Kommunikation mit Eltern über die Lern- und Leistungsentwicklung der Kinder an der Grundschule sowie die Möglichkeiten, die sie beim Übergang haben. Auch die Schulsozialarbeit spielt eine wichtige Rolle, gerade dabei, Schüler*innen als ganze Personen in den Blick zu nehmen und nicht nur als Leistungserbringer*innen.

Schenken wir Bildungsübergängen in der Praxis ausreichend Beachtung?

Matthias Forell: Ja. Spätestens im dritten Schuljahr wird das Thema Übergang ein großes, sowohl was die unterrichtliche Gestaltung als auch was die Kommunikation mit Eltern angeht. Und in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe, die je nach Bundesland Erprobungs-, Bewährungs- oder Orientierungsphase heißt, geht es stark darum, die heterogenen Lernstände der Schüler*innen aus unterschiedlichen Grundschulen anzugleichen und alle auf die Mittelstufe ab der siebten Klasse vorzubereiten.

Trotz dieser Vorbereitungen gelingen Übergänge aber nicht immer?

Matthias Forell: Ich würde nicht sagen, dass Übergänge nicht gelingen. Schüler*innen wechseln wie gesagt mit unterschiedlichen Leistungsständen und unterschiedlichem Lern-und Arbeitsverhalten an die weiterführende Schule. Inwieweit es die Einzelschule dann schafft, damit umzugehen, hängt auch davon ab, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt. Ich könnte die These formulieren, dass es für nicht-gymnasiale Schulen in herausfordernden Lagen schwieriger ist, weil es ihnen an Ressourcen mangelt, die besser situierten Gymnasien zur Verfügung stehen, personellen oder auch finanziellen, beispielsweise einem Förderverein.

 

Was können Lehrkräfte tun, um beim Übergang zu helfen?

Matthias Forell: Die Grundvoraussetzung ist: Schüler*innen Zeit zu geben, sich zu akklimatisieren. Ich bin überzeugt, dass viele Lehrer*innen das auch tun. Aber sie befinden sich in dem Dilemma, dass es curriculare Vorgaben gibt, was Schüler*innen am Ende eines Halbjahres oder Schuljahres können müssen. Sie können ihnen also nicht beliebig viel Zeit geben. Bei der Kommunikation mit den Eltern ist große Transparenz wichtig – über die Einschätzungen des Leistungsniveaus und -potenzials des Kindes, aber auch über sozial-emotionale Aspekte.

Welche Folgen haben nicht erfolgreiche Bildungsübergängen?

Matthias Forell: Wir sehen in nationalen wie internationalen Schulleistungsstudien, dass sich Ungleichheiten aufschichten und fehlendes Vorwissen oder nicht erlernte Kompetenzen auch in höheren Jahrgangsstufen zu Problemen führen. Die PISA-Studie 2022 belegt, dass im Fach Mathematik 42 Prozent der 15 Jahre alten Schüler*innen an nicht-gymnasialen Schulformen die Mindeststandards nicht mehr erreichen. Im Lesen und in den Naturwissenschaften sind es rund 30 Prozent. Man kann natürlich sagen, dass hier irgendetwas schiefgegangen ist. Allerdings lässt sich das im Einzelfall schwer auf den Übergang zurückführen. Fakt ist, dass diese Schüler*innen an nichtgymnasiale Schulformen übergegangen sind und schwierige Lernausgangslagen dort zumindest nicht ausgeglichen werden konnten.

Im schlimmsten Fall kostet das junge Menschen den Abschluss.

Matthias Forell: Im sogenannten Übergangssystem leisten die beruflichen Schulen einen großen Beitrag, um nachträglich Abschlüsse zu gewährleisten: Rund sechs Prozent der Schüler*innen verlassen die allgemeinbildende Schule nach der neunten oder zehnten Klasse ohne Abschluss; drei Jahre später kommen nur noch 1,5 Prozent ohne auf den Arbeitsmarkt.

Sind Übergänge nur für Kinder aus weniger privilegierten Familien schwierig?

Matthias Forell: Ein Bruch in der Bildungsbiografie stellt für alle eine Herausforderung dar. Aber Schüler*innen aus privilegierteren Verhältnissen haben meist mehr Ressourcen, um den Übergang gut zu bewältigen. Für Schüler*innen aus weniger privilegierten Verhältnissen ist es auch schwerer, weil sie häufig in schulische Lern- und Entwicklungsmilieus kommen, die mehr Herausforderungen mit sich bringen.

Ein Bruch in der Bildungsbiografie stellt für alle eine Herausforderung dar. Aber Schüler*innen aus privilegierteren Verhältnissen haben meist mehr Ressourcen, um den Übergang gut zu bewältigen.“

 

Gibt es weitere Hintergrundmerkmale, die Einfluss haben?

Matthias Forell: Eine andere Differenzkategorie, die bei allen Übergängen eine entscheidende Rolle spielt, ist das Geschlecht. Beim Übergang von der Kita in die Grundschule werden doppelt so viele Jungen zurückgestellt wie Mädchen. Mädchen bekommen häufiger eine Empfehlung fürs Gymnasium als Jungen. Dementsprechend mehr Abiturientinnen als Abiturienten gibt es dann auch. Das Ganze schreibt sich fort bis ins Studium. Umgekehrt betrachtet, verlassen deutlich mehr Jungen die Schule ohne Abschluss als Mädchen. Die Anpassung an schulische Anforderungen fällt Jungen also bedeutend schwerer.

Inwiefern kann das Bildungssystem Brüche auffangen?

Matthias Forell: Das Verhältnis von Aufwärts- zu Abwärtsmobilität ist im deutschen Schulsystem erst mal ein ungünstiges: Es steigen deutlich mehr Schüler*innen ab als auf. Aber was nach Corona geschah, ist ein gutes Beispiel. Es wurden Nachholprogramme installiert, leider nicht flächendeckend und nur punktuell. Ich glaube, ein institutionalisiertes Förderprogramm wäre eine gute Idee. Auch die individuelle Förderung innerhalb einer Schule könnte vorangetrieben werden, da sind wir beim Thema Multiprofessionelle Teams. Viele Schulgesetze bieten zudem die Möglichkeit, die Schuleingangsphase in der ersten und zweiten Klasse zu flexibilisieren.

Was bedeutet eine flexibilisierte Schuleingangsphase?

Matthias Forell: Dass diese Phase jahrgangsübergreifend ausgestaltet werden kann, also die erste und zweite Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Das wird unterschiedlichen Lernausgangslagen von Schüler*innen gerecht. Man könnte an bestimmten Schulen auch die fünfte und sechste Klasse so organisieren.

Was sind die konkreten Vorteile des jahrgangsübergreifenden Lernens?

Matthias Forell: Man hat formal eine Klasse, die zum Beispiel statt aus 26 Erstklässler*innen aus 13 Erst- und 13 Zweitklässler*innen besteht. Klassenlehrer*innen müssten nur die Hälfte der Kinder an schulisches Lernen heranführen und hätten dabei Unterstützung von Schüler*innen, die sich schon akklimatisiert haben. Es gibt Untersuchungen dazu, dass die Leistungsfähigkeit der Leistungsstarken nicht darunter leidet, dass sie mit Leistungsschwächeren zusammen lernen. Im Gegenteil: Indem ein Kind, das etwas schon kann, es einem anderen Kind erklärt, kann es den Lernstoff selbst noch mal besser und hat zudem gelernt, jemandem etwas beizubringen. Außerdem nehmen sich dadurch auch eher leistungsschwache Schüler*innen mal selbstwirksam wahr.