Wie kann es gelingen, Vielfalt und Diversität in der frühkindlichen Bildung zu vermitteln? Ist das Thema nicht viel zu abstrakt für so junge Menschen?
Olaolu Fajembola: Kinder werden häufig als getrennt oder isoliert von der Erwachsenenwelt betrachtet. Das ist sicherlich in vielen Bereichen wichtig. Sie sollten durchaus als unabhängige Mitmenschen betrachtet werden, die ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse haben. Doch insbesondere bei den Themen Rassismus und Ausgrenzung ist es wichtig, sich klarzumachen, dass Kinder in derselben Gesellschaft wie alle Menschen leben und entsprechend ebenso deren machtstrukturelle Dimensionen erleben.
Einige Kinder werden in finanzschwache Haushalte hineingeboren, wachsen in nicht christlichen Haushalten auf, leben in queeren Familien, sind Schwarz et cetera. Diese Kinder wachsen von Anfang an mit Erfahrungsdimensionen auf, die sie früh entlang der gesellschaftlichen Normvorstellungen zu bewerten lernen: Als muslimisches Kind verstehe ich schnell, wie die Gesellschaft über meine Religion denkt oder sich bestenfalls unwissend oder gleichgültig dazu verhält. Als Kind aus einer queeren Familie lerne ich schnell, dass beim Begriff „Familie“ meist andere Familienformen gedacht werden und meine Familie daher häufig neugierig betrachtet oder infrage gestellt und damit abgewertet wird.
Diese Beispiele veranschaulichen, dass viele sehr junge Menschen schon früh mit Diskriminierung konfrontiert werden. Mit ihren Bezugspersonen entwickeln diese Kinder in der Regel eine Sprache und eine Bewertung – kurz: ein Werkzeug – im Umgang mit Diskriminierungserfahrungen. Das zeigt, dass das Thema eben nicht abstrakt ist, keine Theorie, sondern gelebte Praxis – und das auch schon für die Allerkleinsten. Das Schweigen über diese Erfahrungen sagt sehr viel aus über die Art und Weise, wie Erwachsene Kinder betrachten. Es zeigt uns auch, wer privilegiert ist, diese Themen nicht zu besprechen, und so jedoch riskiert, durch Unwissenheit andere Kinder zu verletzen oder das eigene Kind in verletzender Unkenntnis zu belassen. Andersherum: Wer Diskriminierungserfahrungen anerkennt und aktiv über Vielfalt spricht, verhilft Kindern zu kraftvollem und selbstbewusstem Wissen.
Ab wann kann es Ihrer Ansicht nach losgehen? Auch schon im U3-Bereich?
Olaolu Fajembola: Die Grundlage für das Gespräch kann mit den ersten Büchern geschaffen werden oder mit den ersten Spielplatzbesuchen. Schon im U3-Bereich können marginalisierte Kinder erfahren, dass beispielsweise ihre Haare, ihre Augenform, ihre Hautfarbe, der Hijab der Mutter, ihre Familien im Fokus stehen und besprochen werden. Schon unter Dreijährige können wir darin bestärken, Grenzüberschreitungen zu spüren, zu verbalisieren und sich auch zu wehren. Beim Lesen von Büchern, die Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen zeigen, kann zum Beispiel über die verschiedenen Hauttöne gesprochen werden und die Rolle, die Melanin dabei spielt. Gemeinsam mit dem Kind kann dann die eigene Haut betrachtet und über die Unterschiede gesprochen werden: Wer hat hellere und wer dunklere Haut?
Wer hat Sommersprossen oder Muttermale? Wessen Haut bräunt im Sommer und wer muss seine Haut ganz besonders vor der Sonne schützen, weil sie schnell verbrennt? Warum verbrennt sie unterschiedlich schnell? Das sind Kinderfragen, die einfach beantwortet werden können. Beim Malen, Gestalten, auf dem Spielplatz, in der Kita, beim Betrachten von Büchern und Bildern, Feiern von Feiertagen, Singen von Liedern finden immer wieder Momente statt, in denen das Sprechen über Vielfalt normalisiert werden kann. Das ist eine wichtige Grundlage, um über Rassismus und Ausgrenzungen zu sprechen.
Wo kann eine Kita anfangen, wenn sie rassismuskritisch und diversitätssensibel arbeiten möchte?
Olaolu Fajembola: Bücher nehmen in der pädagogischen Arbeit unbestritten eine wichtige Rolle ein. Sie sind ein wesentliches Kulturgut, ihre Inhalte werden als wichtig und ernst bewertet und sie bieten eine starke Orientierungsfunktion. Wenn Kitafachkräfte diversitätssensibel und wertschätzend arbeiten möchten, sind Bücher ein wichtiger Ansatzpunkt. Ich empfehle Pädagog*innen, genau hinzuschauen, damit alle Kinder mitgedacht und wertgeschätzt werden: Welches Wissen vermittelt ein Buch? Welche Inhalte, Sprache und Symbole enthält es? Welche Kinder stehen im Zentrum?
Ein Blick ins Bücherregal lohnt sich deshalb immer – in der Kita, aber natürlich auch zu Hause. Welche Bücher, welche Texte und Bilder sehe ich dort? Welche Kinder werden dort abgebildet und welche Sprache wird dafür verwendet? Werden nicht weiße Kinder als fremd dargestellt? Wird ein Grundwissen im Sinne von „Normalerweise sind Kinder weiß, das muss nicht erklärt werden.“ konstruiert? Welche Äußerungen werden über „fremde“ Kinder gemacht? Muss deren Existenz, deren Dasein erklärt werden und wie passiert das? Wie wird Deutschsein gedacht? Wer gehört dazu, wer nicht?
Was bedeutet Repräsentation und warum ist sie in Kinderbüchern wichtig?
Olaolu Fajembola: Repräsentation bedeutet konkret: Ich trete würdig auf, ich vertrete eine Gruppe würdig. Wenn marginalisierte Kinder in einem Buch einen Hauptcharakter sehen, der ihre Lebensperspektiven teilt, erlaubt ihnen das, sich selbst in Würde zu sehen, sich selbst gut vertreten zu fühlen. Kurz: Sie erkennen sich und verbinden sich anders mit dem Text und den Bildern. Das Buch erkennt sie und denkt sie mit. Kinder, die marginalisiert sind, sehen sich, wie viele Studien immer wieder belegen, zu wenig im Fokus von Büchern und Medien und auch von Spielsachen. Sie erleben eine große Unsichtbarkeit. Diese Kinder lernen, sich und ihre Perspektiven als weniger relevant, weniger schön, weniger erstrebenswert zu bewerten.
Sie lernen, weiße, bürgerliche, heteronormative Perspektiven als „normal“ und erstrebenswert zu betrachten und als ihre eigenen zu übernehmen. Sie beginnen so, sich selbst, ihre eigenen Sichtweisen und Lebenswelten negativ, einseitig und klischeehaft zu betrachten. Kurz: Die Erfahrung der permanenten Marginalisierung kann Auswirkungen haben und die Entwicklung eines positiven Selbstbewusstseins verhindern. Es ist daher wichtig für alle Kinder, sich selbst ins Zentrum ihrer Perspektiven zu stellen und aus sich heraus die Welt zu begreifen. Und von Vorbildern zu erfahren, die ihnen ähneln und sich gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit eingesetzt haben.
Welche Tipps haben Sie für pädagogische Fachkräfte? Worauf können sie achten, um sich nicht selbst – unabsichtlich – rassistisch zu verhalten, sondern Vielfalt Raum zu geben?
Olaolu Fajembola: Selbstreflexion, kritische Selbstanalyse und lernen, lernen, lernen. Und es muss ihnen klar sein, dass wir bereit sein müssen, uns selbst kritisch zu reflektieren und zu bewerten: die eigene Sozialisation und Erziehung, eigene Wissensbestände, eigenes Konsumverhalten, Freund*innenkreise und so weiter. Wenn wir mit Kindern über Rassismus ins Gespräch kommen, ist es wichtig zu klären, was wir darunter verstehen, und uns klarzumachen, dass es eben nicht nur darauf ankommt, sich für andere einzusetzen. Sondern dass es vor allem darum geht, das eigene Weißsein zu reflektieren und es von rassistischen Bestandteilen zu befreien. Nur so können die Gespräche und die Handlungen auch nachhaltig sein und Veränderungen anstoßen. Für alle.
1000-Kitas-Kampagne
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Die 1000-Kitas-Kampagne trägt dazu bei, dass die Vielfalt unserer Gesellschaft auch in den Materialien der Einrichtungen sichtbar wird. Ziel der Kampagne: Vielfalts-Pakete in 1.000 Einrichtungen in ganz Deutschland zu bringen. Die 1000-Kitas-Kampagne hilft Kitas dabei, den ersten Schritt zu einer inklusiveren und gerechteren Zukunft für alle Kinder zu gehen, und stattet sie mit einem bunten Materialpaket aus. Es enthält Bücher, Spiel- und Bastelmaterialien für einen diversen und inklusiven Kitaalltag. Ins Leben gerufen wurde die Kampagne vom Onlineshop Tebalou, der rassismuskritische und diversitätssensible Bücher und Spielwaren für Kinder in einer diversen Gesellschaft anbietet.
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