Chancengleichheit 07.01.2020

Der schulscharfe Sozialindex für NRW kommt

BildungsfinanzierungGrundschuleLehrkräftemangel

Professor Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr-Universität Bochum im Interview

2020 wird in NRW voraussichtlich der schulscharfe Sozialindex eingeführt. Die Landesregierung NRW hat die Qualitäts- und Unterstützungsagentur - Landesinstitut für Schule NRW (QUA-LiS) beauftragt mit wissenschaftlicher Begleitung einen schulscharfen Schulsozialindex zu entwickeln. Prof. Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr-Universität Bochum forscht zum Sozialindex und spricht im Interview über Chancen und Aufgaben für die Landespolitik.

  • Interview: Fabian Kaske
  • Funktion: Online-Redaktion der GEW NRW
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Sie haben den Zusammenhang von sozialer Segregation und Bildungschancen im Ruhrgebiet untersucht. Was waren die zentralen Ergebnisse? Kann der aktuelle kommunenspezifische Sozialindex die Ungleichheit ausgleichen?

Jörg-Peter Schräpler: In unserer Studie Wege zur Metropole Ruhr haben wir über fünf Jahrzehnte hinweg für ganz NRW die sozialstrukturelle Entwicklung der Stadtteile und die Bildungsbeteiligung der dort lebenden Schüler nachzeichnen können. Dabei zeigt sich im Ruhrgebiet eine ausgeprägte Spaltung zwischen den stark vom Bergbau geprägten nördlichen Stadtteilen und den südlichen, eher bürgerlichen Stadtteilen sowie den Großstädten und Kreisen. Die Autobahn A40 bildet dabei eine sichtbare Trennlinie der sozialen, demografischen und ethnischen Segregation. Wir konnten zeigen, dass die Mehrzahl der Kinder im Ruhrgebiet in sozial benachteiligten Bezirken aufwächst und dass es einen starken Zusammenhang zwischen dem Sozialraum der Grundschulen und der Übergangsquote zum Gymnasium gibt. Wenn die Grundschulen in Bezirken liegen, deren Entwicklung im Verlauf des Strukturwandels von Arbeiter*innenvierteln hin zu sozial benachteiligten Bezirken erfolgte, sind die Teilhabechancen der Kinder deutlich geringer als etwa in gefestigt bürgerlichen Bezirken.

Diese Bildungsungleichheiten lassen sich mit dem derzeitigen kommunenspezifischen Sozialindex nicht abbilden. Er kann den Defiziten und Effekten nicht entgegenwirken, die aus schwierigen Lernausgangslagen entstehen, weil er die selben Ressourcenzuweisungen für alle Schulen einer Kommune beinhaltet. Die Heterogenität innerhalb der Kommunen ist deutlich größer als zwischen den Kommunen, sodass ein Kreisindex nicht aussagekräftig ist. Benötigt wird stattdessen ein schulscharfer Sozialindex, der die spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Schule vor Ort berücksichtigt.

Für die Einordnung von Vergleichsarbeiten haben Sie schulscharfe Standorttypen entwickelt. Sie sehen diese als gute Grundlagen für einen neuen Sozialindex. Was sind Ihrer Meinung nach die Vorteile des Standorttyps?

Jörg-Peter Schräpler: Der Standorttyp wird seit Jahren von uns erstellt und aktualisiert. Er ist ein schulscharfer Index, der auf Basis des Anteils an Schüler*innen in Familien, die Hartz IV beziehen, und Kindern mit Migrationshintergrund oder nichtdeutscher Familiensprache konstruiert wird. Wenn es darum geht, die sozialen Herausforderungen an den Schulen zu erfassen, sind diese beiden Merkmale statistisch besonders relevant. Sie erklären auch einen großen Teil der Varianz der Lernstandsergebnisse an den Schulen. Da über den geplanten schulscharfen Sozialindex Ressourcen verteilt werden sollen, ist es notwendig, dass neben diesen beiden Variablen weitere Komponenten berücksichtigt werden. Herauszufinden welche das genau sind, ist die Aufgabe der nächsten Monate.

An Duisburger Grundschulen fehlen beispielsweise 109 Lehrkräfte, die Situation wird von Schuljahr zu Schuljahr schlimmer. Wie kann ein neuer Sozialindex helfen?

Jörg-Peter Schräpler: Um etwas gegen den Lehrer*innenmangel zu tun, muss man eventuell auch über eine Umverteilung nachdenken. Es nützt aber auch nichts nur umzuverteilen. Generell müssen zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden, die dann an Schulen mit ungünstigem Sozialindex verteilt werden. Schulen in schwierigem Umfeld benötigen unter anderem kleinere Klassengrößen und damit mehr Personal sowie zusätzliche Fördermittel. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus 2018 zeigt sehr deutlich, dass gerade die sozial schwachen Schüler*innen besonders von kleineren Klassen profitieren können.

Die Diskussion um den Sozialindex wird in NRW schon seit einigen Jahren geführt. Jetzt scheint das Thema an Fahrt aufzunehmen. Welche Maßnahmen sollten nach der Festlegung des Sozialindex als erstes angegangen werden?

Jörg-Peter Schräpler: Wichtig ist, dass der neue Sozialindex auch zügig zur Ressourcensteuerung verwendet wird. Wie Ressourcen zugeteilt werden, muss das Schulministerium möglichst schnell klären. Dann könnte ein erstes Kontingent an Stellen und anderen Ressourcen noch in diesem Jahr über den Sozialindex an die Schulen vergeben werden.