lautstark. 03.02.2025

Der Schlüssel für Teilhabe

BelastungChancengleichheitMitbestimmungNachhaltigkeitVersorgung

Sprachstandserhebungen und Sprachförderung in der Schule

Seit über 20 Jahren erheben Studien die Sprachkompetenzen von Schüler*innen – insbesondere im Bereich Lesen. Seit Jahren fallen die Ergebnisse schlecht aus. Welche Kompetenzen grundlegend sind, um Texte lesen und verstehen zu können, und wie Lesekompetenz in Schulen gefördert werden kann, erklärt Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek vom Mercator-Institut für Sprachförderung.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2025 | Sprache. Macht. Teilhabe.
  • Autor*in: Prof. em. Dr. Michael Becker-Mrotzek
  • Funktion: Wissenschaftlicher Berater am Mercator-Institut für Sprachförderung der Universität Köln
Min.

Sprachliche Kompetenzen gelten zu Recht als Schlüsselqualifikationen, weil sie die Basis für selbstständiges Lernen, Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft sowie berufliches Handeln bilden. Daher werden sie seit PISA 2000 in unterschiedlichen Studien immer wieder erhoben, zunächst und überwiegend im Bereich des Lesens, aber auch beim Schreiben und in Ansätzen beim Zuhören; letztere lassen sich aber nur mit deutlich mehr Aufwand für alle Beteiligten erfassen. 

Die Leseleistungen wurden international erstmals mit PISA 2000 für die 15-Jährigen umfassend erhoben, was in Deutschland zum PISA-Schock führte, da die Ergebnisse dermaßen schlecht ausfielen. Die Leseleistungen von Grundschüler*innen des vierten Jahrgangs werden in der internationalen IGLU-Studie erhoben, zuletzt 2021. Bei den nationalen Studien sind insbesondere die IQB-Bildungstrends von Interesse, weil hier auch Daten für die einzelnen Bundesländer ausgewiesen werden.

Lesen ist ein mehrdimensionaler Prozess

Methodisch handelt es sich bei all diesen Studien um Large-Scale-Studien, bei denen die Daten einer großen Zahl von repräsentativ ausgewählten Schüler*innen mit erprobten Aufgaben und Fragebögen durch geschulte Testleiter*innen erhoben werden. Allen Studien liegen Kompetenzmodelle zugrunde, also Theorien, wie etwa Lesen funktioniert. Lesen wird heute verstanden als ein mehrdimensionaler Prozess mit unterschiedlichen Teilfertigkeiten. 

Es umfasst die Leseflüssigkeit sowie das Leseverstehen, das sich wiederum unterteilt in das Finden einzelner Informationen, die Rekonstruktion der Textbedeutung und schließlich die Reflexion und Bewertung. Zudem ist der gesamte Leseprozess eingebettet in eine übergeordnete Aufgabe, aus der sich unter anderem das Leseziel und das Monitoring herleiten, also das Steuern und Überwachen des Leseprozesses. Für das Erheben der Lesekompetenz werden Testaufgaben entwickelt, die diese Zusammenhänge berücksichtigen, also etwa

  • die eigentliche Leseaufgabe in eine altersgemäße Situation einbetten,
  • Fragen zu einzelnen Informationen stellen,
  • aber auch Zusammenhänge erfragen sowie eine Textbewertung umfassen, etwa zur Glaubwürdigkeit des Textes.

Diese Aufgaben haben eine sehr gute Qualität und sind geeignet, die Lesekompetenz valide, verlässlich, objektiv und fair zu erfassen.

Abbildung 1 und 2

Lesekompetenz nimmt in Deutschland und NRW wieder ab

Langfristig lassen sich für Deutschland zwei Tendenzen erkennen: Bis etwa 2010 haben sich die Leseleistungen der Schüler*innen verbessert; seitdem nehmen sie wieder ab, sodass bei PISA 2022 die Leistungen knapp unter denen von PISA 2000 liegen (→ Abbildung 1). Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei IGLU, den Leseleistungen der Viertklässer*innen, die seit 2006 wieder abnehmen und jetzt ebenfalls unter dem Ausgangsniveau von 2001 liegen (→ Abbildung 2). Dabei entwickeln sich die Leseleistungen in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich, wie die IQB-Bildungstrends zeigen. 

Für eine grobe Einschätzung zeigt folgende Grafik (→ Abbildung 3) die Leseleistungen für NRW im Vergleich mit allen Bundesländern sowie mit Baden-Württemberg, das als Flächenland mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur gut mit NRW vergleichbar ist, aber sich seit einigen Jahren sehr intensiv um die Leseförderung kümmert. In NRW ist der Anteil der Schüler*innen, die den Mindeststandard verfehlen, immer größer als im Bundesdurchschnitt und als in Baden-Württemberg. 

Baden-Württemberg ist es im Jahrgang 9 gelungen, den Anteil der Schüler*innen, die den Mittleren Schulabschluss anstreben, aber den entsprechenden Mindeststandard verfehlen, auf 18,8 Prozent zu verringern, während es in NRW nach wie vor 27,5 Prozent sind. Damit liegt NRW signifikant über dem Bundesdurchschnitt, Baden-Württemberg dagegen signifikant darunter.

Schüler*innen fehlen basale Fertigkeiten

Die Ursachen für diese Entwicklungen sind vielfältig und haben auch mit dem demografischen Wandel sowie den veränderten Lebensbedingungen zu tun. Diese kann Schule aber nicht ändern, sondern nur in Rechnung stellen. Bei dem wachsenden Anteil der Schüler*innen mit unzureichender Lesekompetenz zeigt sich, dass es ihnen an basalen Fertigkeiten fehlt, wie die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz in ihrem Grundschulgutachten Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. 

Perspektiven für die Grundschule 2022 zeigte. Vor allem die Leseflüssigkeit sowie grundlegende Lesestrategien werden unter den basalen Fertigkeiten verstanden – Analoges gilt im Übrigen auch für das Schreiben. Leseflüssigkeit meint die Fertigkeit, einen Text zügig und automatisiert zu lesen, um so das Arbeitsgedächtnis zu entlasten. Lesestrategien meint die Fähigkeit, einen Text entsprechend der eigenen Leseziele mit unterschiedlichen Methoden durchzuarbeiten; zu den wichtigsten Strategien gehört das schriftliche Zusammenfassen zentraler Aussagen. Lesestrategien können allerdings erst dann genutzt werden, wenn die Leseflüssigkeit ausreicht.

Abbildung 3

Tägliches Üben führt zu schnellem Lernfortschritt

Basale Kompetenzen lassen sich sehr gut schulen. Dafür bedarf es zum einen praktikabler Diagnoseinstrumente und zum anderen materialgestützter Trainingsprogramme, wie sie etwa in BiSS-Transfer – einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern zur Sprachförderung in Schulen und Kitas – entwickelt wurden. Solche Trainingsprogramme zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehrmals pro Woche, am besten täglich, für eine überschaubare Zeit von circa 20 Minuten durchgeführt werden. 

Dabei werden mit wechselnden Übungen wie dem chorischen Lesen oder unterschiedlichen Partnerübungen zunächst die Leseflüssigkeit aufgebaut und später basale Lesestrategien eingeübt. Bei allen Übungen erhalten die Schüler*innen ein unmittelbares Feedback, was sich positiv auf die Motivation auswirkt. Denn die Übungen sind so angelegt, dass praktisch alle schnelle Lernfortschritte erzielen. 

Als erstes Bundesland hat Hamburg ein solches Trainingsprogramm in Form eines Lesebandes sehr erfolgreich eingesetzt. Aktuell setzt Baden-Württemberg im Rahmen seines Programms Starke BASIS! derartige Konzepte flächendeckend in der Grundschule um. NRW geht mit dem Konzept der verbindlichen Lesezeit von 3 × 20 Minuten in der Grundschule einen ähnlichen Weg; auch hier sollen die basalen Kompetenzen regelmäßig und systematisch aufgebaut werden.

Leseförderung in NRW braucht systematischere Umsetzung

Im Unterschied zu Baden-Württemberg sind die Rahmenbedingungen in NRW aber weniger klar strukturiert. So gibt es in Baden-Württemberg beispielsweise in jeder Schule fortgebildete Verantwortliche für das Programm, feste Ansprechpartner*innen in den Regionalstellen, ein Onlineportal mit Material und kurzen Erklärvideos sowie Blended-Learning-Fortbildungen. 

Auf dieser Grundlage hat das Land 2023 alle Grundschulen per Erlass verpflichtet, ein evidenzbasiertes Leseförderkonzept einzuführen. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv, auch deshalb, weil die Lehrkräfte merken, dass das Programm zu erkennbaren Erfolgen bei den Schüler*innen führt. Vor diesem Hintergrund kann NRW nur ermutigt werden, die erfolgreichen Konzepte aus BiSS-Transfer noch konsequenter und systematischer umzusetzen, etwa auch im Rahmen des anlaufenden Startchancen-Programms.