Nach gewerkschaftlicher Auffassung lässt sich die Frage, ob die berufliche Bildung bei uns im Hinblick auf den Fachkräftemangel gut aufgestellt ist, nicht nur im Zusammenhang mit der Arbeitslosenstatistik beantworten. Eine niedrige Arbeitslosenquote unter Jugendlichen hängt ganz entscheidend auch davon ab, wen der Arbeitsmarkt absorbiert und wie sich die konjunkturelle Situation darstellt. Spannend wird es, wenn wir andere Parameter hinzuziehen.
Insbesondere in der dualen Berufsausbildung haben wir mittlerweile eine paradoxe Situation: Zum einen bleiben immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt; zum anderen haben wir einen verfestigten Anteil an Jugendlichen, die dauerhaft von Ausbildungslosigkeit betroffen oder bedroht sind. Wir reden hier über ein Marktversagen, das den Fachkräftemangel verschärft oder im mittleren Qualifikationsbereich verursacht.
Das Märchen vom Akademisierungswahn
Der öffentliche Diskurs zum Thema ist teilweise einseitig und geprägt vom Kampf um die besten Köpfe. In Fortsetzung der Debatte um den sogenannten Akademisierungswahn sehen Kammer- und Arbeitgebervertreter*innen in dem (zu) hohen Anteil an Jugendlichen, die sich für ein Studium entscheiden, die Ursache für den Mangel an Fachkräften im Bereich der beruflichen Bildung. Abgesehen davon, dass die Verbandsvertreter*innen selbst ihre Kinder auf die Hochschulen schicken, verhindert diese einseitige Betrachtung den Blick auf die wahren Herausforderungen.
Der Grundsatz „Auf die Hochschulen gehören nur die besten Kinder und meine!“ ist zudem mit dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht vereinbar. Außerdem ist es müßig, den Bereich der beruflichen Bildung gegen den der akademischen Bildung auszuspielen, zumal das Jammern auf Arbeitgeberseite auch den Fachkräftemangel im Bereich der akademisch Ausgebildeten betrifft. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt dies.
Bestenauslese auf dem Ausbildungsmarkt sorgt für Schieflage
Im Hinblick auf die Fachkräftesicherung im Bereich der beruflichen Bildung konnten die Arbeitgeber jahrzehntelang auf die Bestenauslese setzen. Die Ansprüche an die Jugendlichen stiegen stetig an. DGB-Auswertungen von Ausbildungsbörsen der Kammern belegen dies eindrücklich. Laut dem Monitor Ausbildungschancen 2023 des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entscheidet sich eine wachsende Zahl von Abiturient*innen für eine Berufsausbildung: In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil derer, die mit Abitur eine duale oder schulische Ausbildung beginnen, von 35 Prozent im Jahr 2011 auf fast 50 Prozent im Jahr 2021 gestiegen.
Umgekehrt stellt sich die Situation für Hauptschüler*innen dar: Sie haben es immer schwerer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, und ein Großteil der ausgeschriebenen Stellen bleibt ihnen von vornherein verschlossen. Zwischen 2011 und 2021 sank der Anteil der Jugendlichen, die mit einem Hauptschulabschluss die Berufsausbildung beginnen, um ein Fünftel. Noch dramatischer sind die Entwicklungen bei den Jugendlichen ohne Schulabschluss.
Gleichzeitig verabschieden sich immer mehr Betriebe aus der dualen Berufsausbildung. Gerade mal ein Fünftel der Betriebe beteiligt sich noch an der Ausbildung des Nachwuchses. Argumente, die das auf fehlende Bewerber*innen zurückführen, sind zu hinterfragen. Schließlich hat dieser Trend schon vor vielen Jahren begonnen, als die Betriebe noch aus dem Vollen schöpfen konnten. Einzelbetriebliche Interessen oder auch Egoismen gehören zu den Ursachen.
Ausgrenzung der Hauptschüler*innen beenden!
In einigen Branchen hat der selbst verursachte Fachkräftemangel zu einem Umdenken geführt. Allerdings nicht bei allen. Auf Landesebene diskutiert die Regierung gemeinsam mit Kammern, Arbeitgebern, dem DGB sowie der Arbeitsagentur im Ausbildungskonsens mögliche Konsequenzen. Dabei wird es absurd, wenn die Gewinnung von Abiturient*innen oder Studienabbrecher*innen in den Mittelpunkt rückt. Auch die aktuelle Debatte um eine rechtliche Verankerung der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung – eigentlich ein begrüßenswertes Unterfangen– wird unter diesem Aspekt von der schwarz-grünen Landesregierung forciert.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive muss es vielmehr darum gehen, die komplette Bandbreite möglicher Bewerber*innen in den Fokus der Bemühungen zu stellen. Die Ausgrenzung von Hauptschüler*innen muss ein Ende haben. Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) sieht bewusst keine Einschränkung beim Zugang zu einer dualen Berufsausbildung vor. Erfolgreich sind diejenigen, die die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen, und nicht die, die politische Debatten von vor acht Jahren neu befeuern.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich bietet eine duale Berufsausbildung eine hervorragende Voraussetzung für einen Berufseinstieg auch für Jugendliche mit Hochschulreife, aber eben nicht ausschließlich. 2026 endet die Ära des Abiturs nach zwölf Jahren. Spätestens dann fällt ein vollständiger Abiturjahrgang an den allgemeinbildenden Schulen weg. Diejenigen Betriebe, die sich schon vorher auf eine veränderte Bewerber*innenklientel eingestellt haben, werden die Gewinner sein.
Echte Ausbildungsplatzgarantie statt vermeintliche Übergangssysteme schaffen!
Das Potenzial für eine duale Berufsausbildung ist groß genug. Potenzielle Bewerber*innen lassen sich durchaus an Berufskollegs identifizieren. In den Bildungsgängen des sogenannten Übergangssystems sind 44.000 Jugendliche „geparkt“. Die Landesregierung ist gefordert, im Rahmen des Ausbildungskonsens Vorschläge vorzulegen, damit der Anteil in der laufenden Legislaturperiode zugunsten eines direkten Einstiegs halbiert werden kann. Daran werden wir den Erfolg messen.
Das Problem: Die betroffenen Bildungsgänge sind häufig weder Übergang noch System. Gemeint sind die Bildungsgänge der dualisierten Ausbildungsvorbereitung und der Berufsfachschule I und II. Dabei haben wir uns an der Systematik der integrierten Ausbildungsberichterstattung des Landes orientiert. In der Praxis heißt das für die Schulen, dass die Schüler*innen sich in den Fachklassen des dualen Systems im ersten Ausbildungsjahr wiederfinden und den praktischen Teil der Ausbildung im Betrieb oder bei einem Träger absolvieren. 4.400 Jugendliche, die sich aktuell in den internationalen Förderklassen befinden, sind hier nicht mitgerechnet. Für sie geht es vorrangig um den Spracherwerb.
Von den Absolvent*innen der dualisierten Ausbildungsvorbereitung in Vollzeit findet sich nur jede*r zehnte Jugendliche danach in einer Ausbildung wieder. Den Berufskollegs wird hier ein Problem aufgebürdet, das sie nicht lösen können. Sie sind die Leidtragenden einer Entwicklung, für die sie nicht verantwortlich sind. Überwiegend sind es die gewerblich-technischen Berufskollegs, die sich dieser Aufgabe stellen müssen. Diese Bildungsgänge sind häufig ein Sammelbecken der Perspektivlosen. Es entstehen anreizarme Lernmilieus, die den Absentismus fördern und für viele geradewegs in eine dauerhafte Ausbildungslosigkeit führt.
In Artikel 6 Absatz 3 der Landesverfassung wird allen Jugendlichen eine Berufsausbildung garantiert. Dagegen wird aktuell tausendfach verstoßen. Wir brauchen dringend eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie, die die Berufskollegs entlastet und einen direkten Einstieg in Ausbildung ermöglicht. Jede*r fünfte junge Erwachsene hat überhaupt keine berufliche Qualifikation. Das kann und darf nicht so bleiben. In Zeiten eines sich verschärfenden Fachkräftemangels ist das eine absurde Entwicklung. Es handelt sich um ein Marktversagen, das endlich angegangen werden sollte. Das Fazit lautet: Ja, das System der dualen Berufsausbildung ist ein geeignetes Instrument zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Es darf aber nicht länger 20 Prozent aller Jugendlichen ausschließen.