Der Initiativkreis Ruhr hat zum sechsten Mal Talente aus dem Ruhrgebiet mit dem TalentAward Ruhr ausgezeichnet. Unter den fünf Preisträger*innen war Ende September 2018 auch Schulleiterin Julia Gajewski. Ihre Gesamtschule Bockmühle in Essen Altendorf steht mit ihrer Schulfamilie für ein Bildungskonzept, das Chancengleichheit im Ruhrgebiet herausragend fördert. Im Interview erzählt die 55-Jährige, was es mit dem pädagogischen Konzept ihrer Schule auf sich hat, was die Wertschätzung der Auszeichnung für die Arbeit aller Kolleg*innen bedeutet und warum der Sozialindex dringend greifen muss für Schulen wie Bockmühle.
Sie haben für Ihre Arbeit in der Gesamtschule Bockmühle den TalentAward 2018 bekommen. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie und Ihre Schule?
In erster Linie ist dieser öffentliche Preis eine hohe Wertschätzung für unsere gesamte Schulfamilie, die wir sonst eher selten erfahren. Die Einladung zur Preisverleihung für alle rund 80 Kolleg*innen mit unserem Hausmeister, allen Sekretärinnen, Referendar*innen und Lehrer*innen ins tolle Ambiente des Krupp Quartiers, das professionelle Programm, die Einladung zu Getränken und einem köstlichen Menü, werte ich insgesamt als ein Zeichen dieser Wertschätzung.
Warum ist die Gesamtschule Bockmühle aus Ihrer Sicht ein besonderer Ort für Schüler*innen und das Kollegium?
Auf der einen Seite glaube ich, dass wir besonders kollegial und empathisch miteinander umgehen. „Wir“ heißt, dass in diesem Fall die Kolleg*innen untereinander und auch die Kolleg*innen beziehungsweise die ganze Schulfamilie mit den Schüler*innen wie beschrieben agieren.
Ich glaube allerdings nicht, dass wir mit unserer positiven und wertschätzenden Haltung gegenüber unseren Schüler*innen ein Alleinstellungsmerkmal besitzen. An vielen Schulen, die sich in einer vergleichbar schwierigen Ausgangslage befinden, wird häufig besonders empathisch gearbeitet, um die Kinder und Jugendlichen, die in der Regel nur sehr wenig häusliche Unterstützung erhalten, überhaupt zu erreichen.
Bockmühle – in Essen nördlich der A 40 mit der Kennzeichnung „Standorttyp 5“ – kann man getrost als Brennpunktschule bezeichnen. Wir sind eine Ganztagsschule im Stadtteil Altendorf. Mit rund 1.480 Schüler*innen und über 150 Lehrer*innen ist sie eine der größten Schulen des Landes. Die Schule versteht sich als ein Ort des sozialen Lernens und entwickelt Möglichkeiten zum Ausgleich sozialer und kultureller Benachteiligung. Seit dem Schuljahr 2006/2007 wird das Teamkonzept umgesetzt. Es sieht unter anderem vor, dass – im günstigsten Fall – zwei Kolleg*innen eine Klasse leiten. Insgesamt sind möglichst wenige Lehrer*innen in den Klassen eingesetzt, was einen hohen Anteil an fachfremden Unterricht bedeutet. Hier wird deutlich, dass wir eine Beziehungsschule sind.
Seit 2010/2011 arbeiten wir inklusiv – jetzt in allen Klassen im Gemeinsamen Lernen und seit dem Schuljahr 2015/2016 wird ein neues pädagogisches Konzept entwickelt und bisher in den Jahrgangsstufen 5 bis 9 durchgeführt. Der traditionelle Fachunterricht wurde aufgelöst, der Unterricht in den Neigungsklassen erfolgt in der Selbstlernzeit in den Unterrichtsfächern Deutsch, Mathematik und Englisch sowie in Lernlaboren für Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften.
Besonders Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien sind auf die pädagogische Unterstützung der Lehrkräfte angewiesen. Wie funktioniert die Talentförderung an Ihrer Schule genau?
Zunächst einmal halte ich unser Klientel nicht für sozial schwach, sondern schlichtweg für arm oder an der Armutsgrenze lebend. Unsere Talentförderung beginnt im fünften Schuljahr mit dem Beziehungsaufbau. Jedem Kind wird deutlich gemacht, dass es etwas wert ist und etwas leisten kann. Mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe für alle Kinder arbeiten unsere Kolleg*innen in der Berufsorientierung in den Sekundarstufen I und II weit über das geforderte Maß hinaus. Vor allem werden die Schüler*innen sehr individuell begleitet. Das geschieht zum Beispiel in der Sekundarstufe I durch die enge Betreuung der Schüler*innen in den Langzeitpraktika oder in der Sekundarstufe II über die Begleitung durch Talentscouts. In beiden Fällen geht es allen Beteiligten darum, für die Schüler*innen als Türöffner*innen für die bereits erwähnte gesellschaftliche Teilhabe zu fungieren. Hierbei spielt es für mich keine Rolle, ob Schüler*innen es am Ende schaffen einen Ausbildungsplatz oder einen Studienplatz zu erhalten. Sie haben oft mehr geschafft, als sie es sich selbst zugetraut hätten.
Was wünschen Sie sich für Ihre Schule? Was würde Ihre Arbeit in Zukunft erleichtern?
Vor allem wünsche ich mir öffentliche Wertschätzung für unsere Arbeit mit den jungen Menschen, die zum Beispiel in einem ansprechenden Gebäude für jede*n Beteiligte*n der Schulfamilie sichtbar wird. Der Sozialindex muss greifen, die Lehrer*innenbesetzung der Schule muss vom Land unterstützend gesteuert werden. Denn, wenn man mal ehrlich ist: Wer geht als Lehrkraft schon freiwillig an eine Schule, an der man unter schwierigsten Bedingungen mit einer schwierigen Klientel arbeitet, wenn es auch einfacher geht? Das schulscharfe Einstellungsverfahren ist nicht hilfreich und sorgt nicht annähernd für eine gerechte personelle Verteilung an betroffenen Schulen. Ich wünsche mir ein wettbewerbsfreies Schulleben. Bildung ist kein Wettbewerb, sondern ein Recht für jeden jungen Menschen in unserer Gesellschaft. Auch wenn sich mein folgender Wunsch in nächster Zukunft leider nicht erfüllen wird, wünsche ich mir eine Gesellschaft, die weniger von Ungerechtigkeit und Spaltung gekennzeichnet ist, als von annähernder Chancengleichheit. Unsere Schüler*innen haben ein Recht auf Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen – leider erfahren sie dieses zu selten.