Was ist der habitussensible Ansatz?
Die Habitustheorie des Soziologen Pierre Bourdieus besagt, dass das individuelle Handeln und die subjektive Wahrnehmung von Menschen durch ein tief verwurzeltes und sozial strukturell verankertes System von Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt sind. Der Habitus wird als angeboren wahrgenommen, denn er wird früh durch die soziale Herkunft und die persönlichen Lebensbedingungen geformt und verinnerlicht. Insofern ist es immer eine Herausforderung, Distanz zum Habitus einzunehmen. In der (sozial-)pädagogischen Arbeit ist das besonders komplex, da die Auseinandersetzung mit sich selbst und das Hineinversetzen in die Kinder und Jugendlichen parallel gelingen muss.
Nur, wer sich mit fremden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern beschäftigt und reflektiert, wo diese ihren Ursprung haben, kann wirklich empathisch auf die Ansichten und Interessen anderer reagieren.
Mit dem habitussensiblen Ansatz empathisch auf die Ansichten und Interessen anderer reagieren
Oft beeinflussen eigene Werte und Normen die (sozial-)pädagogische Arbeit. Hier können Fachkräfte ansetzen und mit Habitussensibilität ein noch tiefer gehendes Verständnis für die unterschiedlichen Lebenswelten und -weisen von Kindern entwickeln. Nur wer sich mit fremden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern beschäftigt und reflektiert, wo diese ihren Ursprung haben, kann wirklich empathisch auf die Ansichten und Interessen anderer reagieren. Gerade bei Kindern aus prekären und sozial benachteiligten Verhältnissen fehlt Fachkräften häufig die unmittelbare Einsicht in deren Alltag. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Herkunft kann die Distanz zu bestimmten Kindern besser nachvollzogen und abgebaut werden. So unterstützt der habitussensible Ansatz Fachkräfte dabei, oft latente Stereotype und Vorurteile abzubauen und eine anerkennendere und wertschätzendere Haltung gegenüber diesen Kindern zu entwickeln, indem sie angeregt werden, ihre Praxis und die damit verbundenen Erwartungen zu hinterfragen.
Der habitussensible Ansatz trägt somit dazu bei, dass Fachkräfte gezielt auf die spezifischen Bedürfnisse und Interessen der Kinder eingehen können – insbesondere bei Kindern, mit denen Fachkräfte aufgrund eigener biografischer Erfahrungen wenig gemeinsam haben. Eine individualisierte Förderung ist nur möglich, wenn Stärken, Ressourcen und Potenziale erkannt und genutzt werden. Langfristig können so differenzierte Maßnahmen ergriffen werden, die die Vielfalt der Kinder besser berücksichtigt und soziale Benachteiligung minimiert.
Sabrina Rutter
Prof.in Dr.in für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule in Dortmund
Was ist der Agency-Ansatz?
Der Agency-Ansatz betont die aktive Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit von Lernenden in Bildungsprozessen. Er zielt darauf ab, Kindern, Schüler*innen und Studierenden Raum für ihre eigenen Ideen und Interessen zu geben. Schon in der frühkindlichen Bildung wird damit die Fähigkeit der Kinder zur Mitbestimmung gefördert und sie lernen, was Partizipation bewirken kann. Lernende entdecken und entwickeln ihre Student Agencys – also ihre Handlungs- und Gestaltungskompetenzen –, die sie brauchen, um sich für ihr individuelles und das gesellschaftliche Wohlergehen einzusetzen. Der Agency-Ansatz erfordert eine Abkehr von traditionell hierarchischen Lehr-Lern-Verhältnissen hin zu partizipativen und ko-konstruktiven Konzepten.
Kinder selbst sind ebenso soziale Akteur*innen mit sozialen Kompetenzen wie Erwachsene – sie verstehen die Welt durch die Erklärungsrahmen, die ihnen zur Verfügung stehen, und finden Wege, die Welt, in der sie leben, zu beeinflussen.
Mit dem Agency-Ansatz finden Kinder selbst Wege, die Welt, in der sie leben, zu beeinflussen
Kinder sind keine passiven Wesen, denen die Werte und Regeln der Gesellschaft eingeflößt werden müssen, um sicherzustellen, dass sie zu mündigen Bürger*innen heranwachsen. Sie beschäftigen sich meist aktiv mit der Welt um sie herum – durch ihre Erfahrungen in Familien, in Peergroups und in den Institutionen, in denen sie Zeit verbringen. Kinder selbst sind ebenso soziale Akteur*innen mit sozialen Kompetenzen wie Erwachsene – sie verstehen die Welt durch die Erklärungsrahmen, die ihnen zur Verfügung stehen, und finden Wege, die Welt, in der sie leben, zu beeinflussen. Man denke beispielsweise an Kinder, die in Armut leben und nach Wegen suchen, mit den Auswirkungen dieser Armut auf ihre Eltern oder Geschwister umzugehen.
Oder Kinder, die mit Rassismus leben, sich damit in ihrem Spiel, in ihren Freundschaften, auf der Straße, in Institutionen auseinandersetzen. Der Agency-Ansatz in der Kindheitssoziologie nimmt Kinder als eigenständige Menschen ernst und wertet ihre Perspektiven und Bestrebungen nicht aufgrund ihres Alters ab. Für die (sozial-)pädagogische Arbeit bedeutet das, Kinder mit ihren eigenen Perspektiven und Erfahrungen sowie ihrem Weltverständnis anzuerkennen.
Es gibt vielfältige Analysen über die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Kindern, handlungsfähig zu sein, und über die Art und Weise, in der ihre Handlungsfähigkeit durch Annahmen und Anforderungen von Erwachsenen und Institutionen eingeschränkt wird. Mit dem Agency-Ansatz wird der Handlungs- und Gestaltungsspielraum der Kinder in der (sozial-)pädagogischen Arbeit gestärkt: Kinderrechte, die demokratische Partizipation von Kindern und ihre Teilhabe an der Gesellschaft stehen im Fokus und eröffnen neue Perspektiven.
Prof.in Jo Moran-Ellis
Dekanin der School of Law, Politics and Sociology an der University of Sussex, Brighton
Übersetzung aus dem Englischen: Prof. Dr. Heinz Sünker
Was ist der Anti-Adultismus-Ansatz?
„Immer dann, wenn Erwachsene ganz selbstverständlich davon ausgehen, etwas besser zu können oder besser zu wissen als ein jüngerer Mensch, und dass sie deswegen ohne dessen Einverständnis über ihn entscheiden können, ist das adultistisch“, wie Kindheitspädagogin und Anti-Adultismus-Expertin Fea Finger im Fachartikel Adultismus – wie Kinder in Kitas diskriminiert werden schreibt.
Anti-Adultismus in der Pädagogik richtet sich gegen die systematische Bevormundung und Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene, basierend auf dem Machtgefälle zwischen den Altersgruppen. Adultismus setzt Perspektiven, Bedürfnisse und Meinungen junger Menschen herab. Anti-Adultismus setzt dem ein gleichberechtigtes, respektvolles Miteinander entgegen, in dem die Ansichten und Wünsche der Kinder ernst genommen und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Die Reflexion von Adultismus kann die (sozial-)pädagogische Arbeit vereinfachen und die Beziehung zu Kindern vertiefen. Fachkräfte müssen nicht mehr auf bestimmte Dinge bestehen und etwas gegen die Kinder durchsetzen, sondern können mit ihnen zusammen den Tag gestalten.
Mit dem Anti-Adultismus-Ansatz die (sozial-)pädagogische Arbeit vereinfachen und die Beziehung zu Kindern vertiefen
Es liegt in der Verantwortung erwachsener Menschen, Adultismus zu verlernen. Eine der wirkungsvollsten Reflexionsfragen, um sich über eigene adultistische Verhaltensweisen Kindern gegenüber im pädagogischen Alltag klar zu werden, ist: „Würde ich das, was ich gerade gemacht habe beziehungsweise was ich jetzt vorhabe, mit einem erwachsenen Gegenüber auch machen?“ In den allermeisten Fällen ist die Antwort ein klares Nein. Dieses „Nein“ fordert uns auf, nach Handlungsalternativen zu suchen, und damit beginnt für die meisten (sozial-)pädagogischen Fachkräfte ein Prozess auf mehreren Ebenen.
Denn es geht sowohl um die Strukturen der Kindertageseinrichtung als auch um die eigenen, individuellen Strategien sowie um die wechselseitige Wirkung beider Aspekte aufeinander. Der Prozess bringt immer wieder Fragen hervor, die nicht sofort und mit einem Satz zu beantworten sind. Er beinhaltet, dass wir uns über die eigene machtvolle Position bewusst werden und dann bereit sind, Macht anteilig abzugeben. Viele Situationen, die ohne Sensibilisierung als normal und alltäglich empfunden werden, sind plötzlich nicht mehr möglich.
(Sozial-)Pädagogische Fachkräfte stehen vor vielschichtigen Herausforderungen in ihrer Arbeit. Die eigene Haltung fortwährend zu überprüfen und im Alltag Kindern gegenüber mehr zugewandte Dialogbereitschaft zu zeigen, kann auf lange Sicht entlasten: Fachkräfte berichten mir immer wieder, wie die Reflexion von Adultismus ihre Arbeit vereinfacht und ihre Beziehung zu den Kindern vertieft hat. Sie müssen nicht mehr auf bestimmte Dinge bestehen und etwas gegen die Kinder durchsetzen, sondern können mit ihnen zusammen den Tag gestalten.
Fea Finger
Kindheitspädagogin, Weiterbildnerin und Beraterin für pädagogische Fachkräfte sowie Autorin und Podcasterin