Das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen ist eine zentrale Aufgabe in der Grundschule und erfordert komplexe Entwicklungsprozesse. Die Grundlage für das Lesen und Schreiben ist die sogenannte Phonem-Graphem-Korrespondenz – die Fähigkeit, Laute mit Buchstaben zu verbinden. Manche Kinder haben Schwierigkeiten, diese Laut-Buchstaben- Zusammenhänge zu erkennen und zu automatisieren, was den Lesefluss, die Rechtschreibung und das Textverständnis beeinträchtigen kann.
Kinder mit diesen Schwierigkeiten verlieren oft die Freude am Lesen und Schreiben. Schätzungen zufolge haben fünf bis acht Prozent aller Kinder Probleme im Lese- und Rechtschreiberwerb, was etwa ein bis zwei Kindern pro Schulklasse entspricht. Je nach Fachdisziplin finden verschiedene Begriffe Verwendung: Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Lese-Rechtschreib-Störung – kurz: LRS – oder auch Legasthenie.
Medizinisch wird der Störungsbegriff verwendet. Das aktualisierte internationale Klassifikationssystem von Krankheiten (ICD 11) ordnet die Schwierigkeiten ein unter Lernentwicklungsstörung mit Lesebeeinträchtigung (6A03.0) und Lernentwicklungsstörung mit Beeinträchtigung im schriftlichen Ausdruck, welche die Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion und Textproduktion umfasst (6A03.1).
Bei LRS-Verdacht: Früh hinsehen, früh unterstützen
Betroffene Kinder erleben oft Frustration, da sie trotz großer Anstrengungen keinen Fortschritt erzielen. Dies kann zu einem Teufelskreis aus Misserfolg, niedrigem Selbstwertgefühl, Schulangst und sogar psychosomatischen Beschwerden führen. Während die Mitschüler*innen Fortschritte machen, bleiben sie zurück – und scheitern an ihrer zentralen Entwicklungsaufgabe. Eine entscheidende Rolle spielen die Reaktionen der Umwelt: Eltern, Lehrkräfte und Klassenkamerad*innen sollten empathisch und unterstützend reagieren, um den negativen Kreislauf zu durchbrechen.
Um eine ganzheitliche Grundlage für erfolgreiches Lernen zu gestalten, kommt es auf die gelingende Wechselwirkung zwischen drei Dialogformen an (→ Abbildung „Das Wirkungsgefüge des Lernens“): Der Beziehungsdialog betont die Rolle der Lehrperson, die durch einen Potenzialblick das fühlende Selbst der Schüler*innen stärkt. Der Lerndialog unterstützt den Kompetenzerwerb und fördert das denkende Ich, während der innere Dialog die emotionale Verarbeitung und Selbstreflexion ermöglicht.
In diesem Modell wird die enge und wechselseitige Verzahnung von Lernleistung, Selbstwert und Beziehung und Unterstützung deutlich. Dies kann im Prozess der Diagnostik und Förderung zur beständigen Selbstreflexion genutzt werden. Eine frühe schulinterne Unterstützung kann helfen, belastende Entwicklungsprozesse zu verringern. Folgende drei Aspekte sind dabei entscheidend: Information, Diagnostik und Förderung sowie die Kooperation mit LRS-Expert*innen.
Annas Weg zum Lesen und Schreiben | 1
Es klingelt zur Pause. Anna schnappt sich ihre Federmappe, ruft ihrer Lehrerin zu: „Ich habe jetzt Lerntherapie!“ und stürmt aus der Klasse. Die Lehrerin blickt ihr lächelnd hinterher – endlich hat Anna wieder Spaß am Lernen. Vor anderthalb Jahren war das noch ganz anders: Schon in der ersten Klasse fiel ihr auf, dass Anna nur sehr langsam die Buchstaben lernte und nie sicher wurde. Als die anderen Kinder schon kleine Texte lesen konnten, kämpfte Anna sich noch mühsam von Buchstabe zu Buchstabe. Irgendwann hat Anna dann aufgegeben. Sie zog sich immer mehr zurück, war häufig krank und der „Lernberg“, vor dem sie stand, wurde immer größer. Die Lehrerin erinnert sich noch gut an das tränenreiche Elterngespräch – denn auch zu Hause gab es Tränen und Hilflosigkeit …
Information: Lernentwicklungsstörungen in Lehrkräfteausbildung und Schulkonzept verankern
Die Lernentwicklungsstörungen und deren Ursachen, Symptomatik und Förderung muss stärker in der Lehrer*innenausbildung verankert werden. Obwohl Schulen in NRW dazu verpflichtet sind, LRS-Beauftragte zu benennen, die für eine Diagnostik, Förderung und Beratung der Kolleg*innen und Eltern zur Verfügung stehen, kann dies vielerorts aufgrund mangelnder zeitlicher und personeller Ressourcen oft nicht umgesetzt werden.
Es fehlt an Fortbildung und Vernetzung, sodass Lehrkräfte meistens schon bei einem Anfangsverdacht auf sich allein gestellt sind, um Informationen zu beschaffen und nötige Schritte für das Kind einzuleiten. Schulintern ist die Verankerung des Themas im Förderkonzept essenziell, sodass zentrale Informationen und Handlungsschritte zur basalen Diagnose und Förderung für jede, auch ungeschulte Lehrkraft direkt umsetzbar sind.
In Anlehnung an Strukturen wie zum Beispiel eine Fachkonferenz Deutsch können Lehrkräfte über regelmäßige Schulungen, Informationsveranstaltungen und fachwissenschaftliche Erkenntnisse als Multiplikator*innen Informationen an das Kollegium geben und beratend zur Seite stehen. Im Zweifel finden Lehrer*innen Fachwissen bei schulnahen Unterstützungssystemen wie Schulpsychologischen Beratungsstellen oder bei den Fachberater*innen der Fachoffensive Deutsch an den Schulämtern.
Diagnostik und Förderung verbinden: Nachteilsausgleiche allein bewirken nichts
In NRW regelt der LRS-Erlass die Unterstützung von Schüler*innen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Die Diagnose von LRS beginnt in der Schule mit der Beobachtung der Lernausgangslage, insbesondere in der Schuleingangsphase. Eine umfassende Diagnostik durch externe Fachstellen, wie Sozialpädiatrische Zentren oder Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeut*innen unter Berücksichtigung mehrerer Entwicklungsbereiche erfolgt – wenn nötig – meist erst ab der zweiten Klasse, wenn Kinder ausreichend Zeit hatten, grundlegende Fähigkeiten zu
entwickeln. Eine frühe Diagnose vonseiten der Schule zur Erfassung der Bedarfe und Ressourcen, zum Beispiel durch Beobachtungen, Lernstandsermittlungen oder standardisierte Testverfahren, ist von großer Bedeutung für eine passgenaue Unterstützung mit Nachteilsausgleichen und Fördermaßnahmen. Die bundesweit höchst unterschiedlich geregelten Nachteilsausgleiche in Schulen sollen von Beginn an für eine Gleichstellung und Entlastung sorgen, da sie Kindern einen fairen Zugang zu Bildung ermöglichen, ohne sie wegen ihrer Schwierigkeiten zu benachteiligen. Sie schaffen eine Grundlage, die den Fokus auf das inhaltliche Lernen lenkt und nicht auf Hürden wie Rechtschreibfehler. Folgende Nachteilsausgleiche stehen zum Beispiel zur Verfügung:
- verlängerte Bearbeitungszeiten
- Anpassung der Aufgabenstellung, zum Beispiel Vereinfachung der Texte
- Einsatz von Hilfsmitteln wie Rechtschreibprogrammen
- Aussetzung der Rechtschreibbewertung, insbesondere in der Primarstufe
- in besonderen Fällen: Ersatz der Bewertung durch eine verbale Beurteilung
Sie sind jedoch nur wirksam, wenn sie mit gezielter Förderung kombiniert werden, um langfristige Fortschritte zu sichern. Schulinterne Ressourcen zur Unterstützung der betroffenen Schüler*innen durch die Basiskompetenzförderung der sozialpädagogischen Fachkräfte, eine präventive sonderpädagogische Förderung oder zusätzliche Fördergruppen Deutsch können bereits bei ersten sichtbaren Schwierigkeiten gezielt Kompetenzen stärken, etwa die phonologische Bewusstheit, die visuelle und auditive Wahrnehmung oder erste alphabetische und orthografische Strategien.
Annas Weg zum Lesen und Schreiben | 2
Seit drei Monaten hat die Schule eine Kooperation mit einer Lerntherapeutin aufgebaut. Anna profitiert bereits von der Zusammenarbeit. Jeden Dienstagvormittag arbeitet sie in kleinen Schritten an ihren Lese- und Schreibfähigkeiten. Mit jedem kleinen Erfolg wächst ihr Selbstvertrauen, sie geht wieder mit Freude in den Unterricht. „Weißt du was? Ich schaff das!“, ruft sie fröhlich, als sie nach der Lerntherapie in die Klasse zurückkommt. Die Lehrerin und die Therapeutin stehen in regelmäßigem Austausch, um sicherzustellen, dass Anna das Gelernte auch im Unterricht anwenden kann.
Kooperation mit Expert*innen: Schule kann und muss nicht alles allein leisten
Oftmals erfordern aber die zeitlich sehr langwierigen Schwierigkeiten und zusätzlichen Begleiterscheinung noch gezieltere und umfassendere Maßnahmen, die über eine reine Förderung im Unterricht hinausgehen müssen. Zudem geraten Schulen mit all ihren aktuellen Herausforderungen oftmals an ihre Grenzen, die schulisch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen.
Es mangelt an Personal, Räumen und Zeit, um die wirklich nötigen Ressourcen bereitzustellen und tatsächlich umzusetzen. Eine Zusammenarbeit mit Lerntherapeut*innen ist eine wertvolle Ergänzung, um eine schrittweise angepasste schulische Förderung zu vertiefen. Bundesweit entstehen zunehmend Multiprofessionelle Teams, die Schulen unterstützen.
Integrative Lerntherapie hilft! Multiprofessionelle Zusammenarbeit in Schule
Die integrative Lerntherapie ist eine interdisziplinäre Therapieform zur Behandlung von Lern-,
Leistungs- und Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten – vor allem Legasthenie (Lese- und Rechtschreibstörung) und Dyskalkulie (Rechenstörung). Sie integriert Erkenntnisse und Behandlungsmethoden aus der Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik, Kognitionswissenschaft und Medizin sowie den Fachdidaktiken von Deutsch und Mathematik.
Der multimodale Förderansatz befasst sich mit den individuellen Inhalten des gestörten Lernprozesses und berücksichtigt dessen Wirkung auf die psychische Verfassung und Einstellung der Lernenden und auf das Umfeld. Die integrative Lerntherapie unterstützt Schüler*innen dabei, insbesondere die Schlüsselkompetenzen Schriftsprache (Lesen / Schreiben) und Mathematik aufzubauen, und leistet Hilfe zur Eingliederung in die Gesellschaft.
Anna hat ihren Weg zum Lesen und Schreiben gefunden – und zeigt uns allen, wie wichtig ein unterstützendes Umfeld ist. Aber: Während das Schulsystem in NRW bereits wichtige Ansätze bietet, reichen diese häufig nicht aus, um allen Schüler*innen mit LRS eine optimale Förderung zu gewährleisten. Mehr Investitionen in Personal und Fortbildungen sowie die Einbindung von Lerntherapeut*innen wären notwendig, um das System nachhaltig zu stärken und Kindern wie Anna langfristig zu helfen.