lautstark. 30.08.2024

Alle Macht der OECD?

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Das datengeschützte Kontrollregime der Bildung auf dem Prüfstand

Wenn es um die Ökonomisierung von Bildung geht, führt kein Weg an ihr vorbei: Die OECD steht für die datengestützte Steuerung und Optimierung von Bildung. Klingt doch gut, oder? Aber sind marktwirtschaftliche Prinzipien wirklich die Antwort auf die Frage nach guter und zukunftsfähiger Bildung?

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2024 | Ökonomisierung – Bildung als Ware?
  • Autor*in: Prof. Dr. Richard Münch
  • Funktion: Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität
  • Autor*in: Dr. Oliver Wieczorek
  • Funktion: Senior Researcher im Bereich Governance und Organisation an der Universität Kassel
Min.

Es liegt im Auftrag der OECD, Bildung als Humankapital und als entscheidenden Faktor des wirtschaftlichen Wachstums und damit die Wirtschaft der Zukunft im Wesentlichen als wissensbasiert und die Gesellschaft insgesamt als eine Wissensgesellschaft zu verstehen. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Daten zu nationalen Bildungssystemen, bislang im PISA-Datensatz kulminierend, scheint zwangsläufig der datenbasierte Vergleich der nationalen Bildungssysteme der Schlüssel zur Entdeckung der bestmöglichen Steuerung von Bildung, Schule und Unterricht zu sein, und zwar im Hinblick auf die Entwicklung derjenigen Qualifikationen, die den größtmöglichen Beitrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums leisten. Das Ziel ist die Steigerung der Qualifikationen sowohl in der Spitze als auch in der Breite. In der Spitze wird die Innovationskraft der Wirtschaft gesteigert, in der Breite die Inklusion in einen Arbeitsmarkt, der immer anspruchsvoller wird.

Wer definiert eigentlich, was gute Bildung ist?

In der Mitte dieser Bewegung der datengestützten Entwicklung von Steuerungsinstrumenten steht die OECD. Sie liefert die Vergleichsdaten, anhand derer sich anscheinend die Best Practices herausfinden lassen. Die Bildungsvergleichsdaten entwerten jede in Traditionen verhaftete praktische Erfahrung, das Wissen der alten Bildungseliten. Mit ihrer materiellen Entmachtung im Sinne der Verdrängung aus dem Entscheidungszentrum der Bildungssteuerung geht deshalb auch ihre symbolische Entmachtung in der Definition von gutem Unterricht einher. Diese Definitionsmacht liegt jetzt bei der OECD und bei den Akteur*innen, die in ihrem Umfeld an der Generierung des neuen, jetzt wissenschaftlich basierten Wissens mitwirken: am autonomen Pol des Bildungsfelds die Bildungsökonomik, die Psychologie und die Psychometrie, die policy-nahe Bildungsforschung und die Bewegung für Bildungsstandards, am heteronomen Pol missionarische Stiftungen wie die Gates-Stiftung oder die Bertelsmann-Stiftung, die Testindustrie, kommerzielle Anbietende von Bildung wie Pearson Education, Think Tanks und Beratungsunternehmen wie McKinsey.

Zusammen mit der OECD bilden sie ein machtvolles Zentrum, das den Wandel von Bildung, Schule und Unterricht hin zu einer datengestützten Steuerung mittels Wettbewerbs und regelmäßiger Tests vorantreibt. Die Vernetzung der neuen Akteur*innen mit der OECD lässt ein weltweit höchst einflussreiches Monopol in der Definition von guter Bildung, guter Schule und gutem Unterricht entstehen, zu dem es keine Gegenmacht auf Augenhöhe gibt. Der neue Bildungsdiskurs befindet sich fest in der Hand dieser Akteur*innen und gewinnt dadurch an zusätzlicher Legitimität, dass er sich durch die Brückenfunktion der OECD nahtlos in den wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurs einfügt, der in offenen Märkten und in der Steigerung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften und der individuellen Marktteilnehmenden die Grundlage für die Steigerung des weltweiten Wohlstandes und der Teilhabe der Individuen an diesem Wohlstand sieht. Die neue Macht stützt sich auf die Legitimität von anscheinend wissenschaftlich gesichertem Wissen. Potenzielle Gegenmacht wird nur von den alten Bildungseliten repräsentiert. Sie bleibt jedoch weitgehend wirkungslos, weil das traditionelle Erfahrungswissen im Lichte der Wissenschaft als bloß anekdotisch abgewertet wird.

Kreativität, Kritikfähigkeit und Innovation bleiben auf der Strecke

Es entsteht eine Art Kontrollregime von Bildung, Schule und Unterricht. Dieses Regime wird allerdings den Prinzipien eines zukunftsfähigen Bildungssystems nicht gerecht. Wo das Kontrollregime erfolgreich praktiziert wird, wie in Ostasien, hat es die Schattenseite der Förderung eines Habitus der subalternen Konformität und der Unterdrückung von Kreativität, Kritikfähigkeit und Innovation. Wo man es nachzuahmen versucht, ohne über die notwendigen kulturellen, strukturellen und institutionellen Voraussetzungen zu verfügen, wie in besonders ausgeprägter Form in den USA, zeitigt es nicht die erhofften Erfolge, sodass seine Schattenseiten umso krasser zutage treten.

In drei Jahrzehnten des fortschreitenden Ausbaus eines Kontrollregimes wurden in den USA keine nennenswerten Erfolge erzielt, weder in der Steigerung der durchschnittlichen Leistungen noch in der Schließung der Leistungskluft nach sozialer Herkunft. Aber auch europäische Länder mit so unterschiedlichen Bildungstraditionen wie Schweden, Finnland, das Vereinigte Königreich und Deutschland haben nicht mehr erreicht. Die damit einhergehende Verringerung des Spielraums für Kreativität, Kritikfähigkeit und Innovation ist umso problematischer, als dies genau diejenigen Eigenschaften sind, deren Entfaltung alle westlichen Gesellschaften ihre Stellung als Verkörperung der Modernität verdanken. Das sollte genug Anlass für ein grundsätzliches Umdenken sein. 

Lektüretipps

PISA und OECD – Ursprünge und Transformation

Mehr erfahren zu PISA, OECD und Co. und ihren Einfluss auf Transformation und Bildungsreformen 

  • Simone Bloem
    Die PISA-Strategie der OECD. Zur Bildungspolitik eines globalen Akteurs
    Beltz Juventa, 2016, 216 Seiten | 31,99 Euro
     
  • Sigrid Hartong
    Basiskompetenzen statt Bildung? Wie PISA die deutschen Schulen verändert hat
    Campus, 2012, 411 Seiten | 50 Euro
     
  • Sigrid Hartong
    Standardbasierte Bildungsreformen in den USA: Vergessene Ursprünge und aktuelle Transformationen
    Beltz Juventa, 2018, 358 Seiten | 36,99 Euro
     
  • Richard Münch
    Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat
    Beltz Juventa, 2018, 392 Seiten | 29,95 Euro