lautstark. 02.02.2021
Älterwerden heute: Potenziale, Verluste und Erwartungen


Das höhere Lebensalter ist heute eine facettenreiche Lebensphase und keinesfalls automatisch die schlechteste im gesamten Lebensverlauf. Die Unterschiede zwischen Älteren Menschen sind riesig und verbieten jegliche Rede von „den Alten“ oder gar „unseren Alten“. Potenziale und Grenzerfahrungen machen gleichermaßen menschliches Altern aus. Überzogene Erwartungen gibt es an jedes Alter. Die Auseinandersetzung mit diesen lohnt sich.
Potenziale des heutigen Alterns: Da geht noch viel
Hand aufs Herz: Wer von uns ist nicht schon selbst von negativen Altersstereotypen im eigenen Kopf überrascht worden. Plötzlich sind sie da und schlagen zu: „Kann das nicht mal schneller gehen da vorne mit dem älteren Herrn am Bankautomaten?“ Altersstereotype bezeichnen (über-)generalisierende Vorstellungen über die Gruppe älterer Menschen, die häufig auch von älteren Menschen für sich selbst übernommen werden. Die gute Nachricht lautet dennoch, dass der Anteil älterer Menschen, der auch Gewinne im Alter sieht, in den letzten Jahrzehnten empirisch nachweisbar zugenommen hat. Die weniger gute Nachricht: Negative Sichtweisen des Alters haben gleichzeitig nur wenig abgenommen.
Empirische Befunde unterstützen Potenziale des Älterwerdens
Kognitive Entwicklung im Alter wird heute oft mithilfe des sogenannten Zwei-Komponenten-Modells der Intelligenz empirisch untersucht, das eine mechanische (fluide Intelligenz) und eine pragmatische Komponente (kristalline Intelligenz) unterscheidet. Auf der einen Seite ist heute aufgrund von Längsschnittdaten klar nachgewiesen, dass sich die mechanische Komponente etwa bis zum 30. Lebensjahr zu ihrem Maximum aufbaut und danach immer stärker abnimmt. Doch zwei gute Nachrichten folgen auf dem Fuße: Diese „Abbauprozesse“ sind bis ins Alter von 70 bis 80 Jahren meist im Alltagsleben sehr gut auszugleichen, machen also keine gravierenden Verhaltensveränderungen notwendig.
Die pragmatische Komponente bleibt zudem im Gegensatz zur mechanischen bis ans Lebensende im Mittel relativ stabil. Soziale Beziehungen sind offensichtlich in jeder Lebensphase von großer Bedeutung für Zufriedenheit, das Erleben von Vertrauen, Zärtlichkeit und Intimität. Ein wesentlicher Befund ist hier, dass soziale Beziehungen auch im späten Leben gut funktionieren sowie erstaunlich aktiv und zielgerichtet gestaltet werden. Dank der sogenannten Sozioemotionalen Selektivitätstheorie wissen wir heute, dass, je älter wir werden, uns emotionsbezogene Ziele immer wichtiger werden. Alte Menschen optimieren regelrecht ihr soziales Netzwerk im Hinblick auf den Erhalt solch persönlich bedeutsamer Kontakte. Die weniger gute Nachricht ist dennoch, dass sich etwa jede siebte Frau und etwa jeder zehnte Mann über 80 Jahre in Deutschland als einsam beschreibt, was aber nur wenig über den Häufigkeitswerten jüngerer Altersgruppen liegt.
In Bezug auf das Wohlbefinden zeigen Studien sehr übereinstimmend, dass es bis ins hohe Alter erstaunlich stabil bleibt. Ältere Menschen schaffen es ziemlich gut, auch angesichts von sich einstellenden Verlusten ein hohes Maß an Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu bewahren. Allerdings scheint es immer schwerer zu werden, ein hohes Maß an Zufriedenheit auch im sehr hohen Alter aufrechtzuerhalten.
Grenzen und Verlusterfahrungen: Da geht immer noch was
Das Alter aus einer Entwicklungs- und Veränderungsperspektive zu begreifen, wie in den vorangehenden Abschnitten geschehen, bildet dann eine besondere wissenschaftliche und praktische Herausforderung, wenn die Verletzlichkeit des Individuums mehr und mehr in das Zentrum tritt. Wenn von Verletzlichkeit gesprochen wird, dann ist damit noch nicht das Auftreten, sondern nur das erhöhte Risiko von Erkrankungen beziehungsweise von Gebrechlichkeit gemeint. Fundierter Prävention, Diagnostik und Therapie sowie Rehabilitation kommt gerade hier eine herausragende Rolle zu. Denn durch diese Versorgungselemente wird dazu beigetragen, das Auftreten von Krankheiten beziehungsweise deren Verschlimmerung und schließlich eine Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die Potenziale der Geriatrie wie auch der Rehabilitation und der rehabilitativen Pflege dürfen hier keinesfalls unterschätzt werden.
Wachsen in Grenzsituationen ist möglich
Und doch nimmt im neunten, vor allem im zehnten Lebensjahrzehnt der Grad an körperlicher, nicht selten auch an kognitiver Vulnerabilität zu. Mehr und mehr gesundheitliche Grenzsituationen bilden sich aus, deren innere Verarbeitung und äußere Bewältigung mit hohen Anforderungen sowohl an den alten Menschen selbst als auch an seine Angehörigen und das Versorgungssystem verbunden sind. Es ist bedeutsam, dass unsere Gesellschaft diese Verletzlichkeit als Teil der Conditio humana deutet und jene Menschen, die mit dieser Verletzlichkeit konfrontiert sind, nicht abwertet (diskriminiert). Dies wäre auch deswegen hochproblematisch, weil damit a) die seelisch-geistigen Entwicklungspotenziale des Menschen auch in Phasen erhöhter Verletzlichkeit vernachlässigt würden und zudem b) die Möglichkeiten produktiver Anpassung des Menschen an die gegebene Situation ungenutzt blieben.
Ad a): Gerontologische Forschung zeigt auf, wie sehr es Menschen gelingen kann, auch in Grenzsituationen zu „reifen“, das hei.t zu neuen Verarbeitungs- und Bewältigungsformen zu finden sowie neue seelischgeistige und existenzielle Entwicklungsperspektiven zu erarbeiten und umzusetzen.
Das Lebensende ist ein gestaltbarer Teil des Älterwerdens
Und auch im Angesicht des herannahenden Todes können Menschen – trotz aller Belastungen – zu erweiterten Verantwortungsbezügen finden (Mementomori- Struktur des Erlebens und Verhaltens): Die erlebte und praktizierte Sorge gilt nun nicht mehr oder primär einem selbst, sondern auch anderen Menschen, so zum Beispiel Angehörigen nachfolgender Generationen. Deutlich wird hier die Plastizität der Psyche beziehungsweise deren (dynamisch zu interpretierende) Resilienz.
Ad b): Gerade in Phasen bleibender Einschränkungen der Selbstständigkeit stellt sich die Aufgabe, Wohnumwelten und Teilhabestrukturen zu schaffen, die diese Einschränkungen zu kompensieren vermögen. Hier kommt der digitalen Technologie wie auch digital vermittelten Teilhabeangeboten große Bedeutung zu. Vielen alten Menschen gelingt es, diese Innovation zu nutzen sowie den Verhaltens- und Handlungsradius erkennbar zu erweitern: ein Beispiel für Verhaltens- und kognitive Plastizität.
Überzogene Erwartungen an Altern und „Jungbleiben“: Muss da was gehen?
Aufgrund von Längsschnittstudien wissen wir heute, dass positivere Sichtweisen des eigenen Älterwerdens und auch ein subjektiv jüngeres Alter langerfristig mit weniger Krankheiten und Funktionseinbußen, besserer kognitiver Leistung und sogar mit einer im statistischen Mittel höheren Lebensdauer einhergehen. Die Potenziale des Älterwerdens zum Klingen zu bringen, setzt positive Sichtweisen gegenüber dem eigenen Älterwerden voraus! Aber: Sollen wir uns nun alle jünger fühlen? Wir haben da unsere Zweifel, denn man kann dies auch als Ablehnung des eigenen Älterwerdens, gewissermaßen als Altersdiskriminierung (ageism), verstehen. Wir sehen aber auch etwas durchaus Positives in derartigen Fragen, denn eigene Standortbestimmungen sind gefordert: Übernehme ich einfach kritiklos für mich selbst, dass sich jünger zu fühlen etwas Gutes für mich ist? Wir raten zu bewusster Auseinandersetzung mit derartigen Fragen des Älterwerdens.
Alternsprozess: Es geht um Gestaltung
Der Alternsprozess ist gestaltbar und wird dabei von historischen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen beeinflusst. In dem Maße, in dem Menschen in einer entwicklungsförderlichen, teilhabefreundlichen und anregenden Umwelt leben, sind Bedingungen für eine aktive, vom Individuum selbst ausgehende Gestaltung von Entwicklung gegeben; dies gilt ausdrücklich auch für die Lebensphase Alter. Ein Gestaltungspotenzial, das ist in medialen Darstellungen des Alters sowie im gesellschaftlichen Diskurs zu Altern ausdrücklich zu betonen ist.