Schule 15.09.2021

Wer reißt das Ruder rum für die Sonderpädagogik?

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Mangelsystem sonderpädagogische Förderung lässt Lehrer*innen und Schüler*innen im Stich

600 Sonderpädagog*innen fehlen allein an den Förderschulen und viele mehr im Gemeinsamen Lernen, dort insbesondere an den Grundschulen. Und die, die da sind, schaffen ihre Arbeit kaum noch. Sie werden vom Land allein gelassen, mit immer mehr Aufgaben und immer weniger Perspektiven. Wie das Ruder rumgerissen werden kann, haben wir Stephan Osterhage-Klingler gefragt. Er ist Experte der GEW NRW für Sonderpädagogik. Die Aktion „#IhrFehlt für gute Schule“ der GEW NRW ist am 9. September 2021 gestartet. Damit macht die Bildungsgewerkschaft aufmerksam auf die in Summe 4.000 fehlenden Lehrkräfte im Land.

  • Interview: Sherin Krüger
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.

Redaktion: Es fehlen 600 Sonderpädagog*innen allein an den Förderschulen in NRW. Im Gemeinsamen Lernen noch viel mehr. Wo siehst du die Hauptursachen für den Lehrkräftemangel in der Sonderpädagogik?

Stephan Osterhage-Klingler: Allein in diesem Kalenderjahr konnten Zweidrittel der ausgeschriebenen Stellen für Sonderpädagog*innen an den Schulen des Gemeinsamen Lernens nicht besetzt werden, an Grundschulen sogar fast 80 Prozent. An den 419 Förderschulen in NRW sieht es nicht besser aus: Aktuell sind dort über 600 Stellen für Sonderpädagogik unbesetzt. Die Stellen existieren, aber es gibt einfach keine Bewerber*innen.

Und das nicht genügend ausgebildete Sonderpädagog*innen zur Verfügung stehen, liegt wiederum stark an zu wenigen Studienplätzen. Außerdem ist es dringend nötig, den Beruf der Sonderpädagog*innen attraktiver zu gestalten. Das geht nicht durch immer größere Klassen und immer mehr zusätzliche Berichtsarbeiten. Hier muss die Politik erkennen, dass so immer weniger Menschen für den Beruf begeistert werden können.

Welche Maßnahmen können dem Mangel an sonderpädagogischen Fachkräften langfristig entgegenwirken? Wofür setzt sich die GEW NRW insbesondere mit ihrer Aktion „#IhrFehlt für gute Schule“ ein? 

Es besteht enormer Handlungsbedarf für die aktuelle und die kommende Landesregierung und auch für die danach. Es reicht nicht aus, Werbekampagnen zu starten. Wir brauchen dringend deutlich mehr Studienplätze für Sonderpädagog*innen, denn langfristig können wir dem Mangel nur so begegnen: Mit gut ausgebildeten Lehrkräften. Parallel dazu müssen auch die Kapazitäten für die berufsbegleitende Weiterqualifizierung ausgebaut und die Kolleg*innen vor allem angemessen entlastet werden. 

Kurzfristig brauchen wir Qualifizierungsmaßnahmen für Kolleg*innen, die schon lange auf verschiedenen Vertretungsstellen an Förderschulen arbeiten – damit kommt mehr Expertise in die Schulen. Auch weitere Professionen, die die Angebote in den Schulen erweitern und bereichern können, wären eine schnelle Unterstützung vor Ort. Sie können allerdings kein Ersatz für ausgebildete Sonderpädagog*innen sein.

Nicht zuletzt müssen wir den Beruf der Lehrkraft insgesamt attraktiver machen, damit sich mehr junge Menschen entscheiden Sonderpädagog*in oder Regelschullehrer*in zu werden. Dazu gehört neben einer gerechten Bezahlung auch die Arbeitsbedingungen an den Schulen zu verbessern.

Mit der Kampagne zeigen wir den eklatanten Lehrkräftemangel auf. „#IhrFehlt für gute Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen“ und „#IhrFehlt zur Unterstützung der Kolleg*innen, für gute Bildung und Förderung“ sind nur zwei Beispiele, die beschreiben, warum Kolleg*innen an den Schulen dringend gebraucht werden.

Welche Stimmen erreichen dich von Kolleg*innen aus der Praxis? Was fehlt an den Schulen ganz besonders? Wie kannst du ihnen weiterhelfen und den Sonderpädagog*innen Mut machen? 

Was der Lehrkräftemangel vor Ort auslöst, kann ich anhand einiger Beispiele von Kolleg*innen zeigen: Immer mehr Sonderpädagog*innen berichten, dass die Anzahl der sonderpädagogischen Gutachten zu-, die Anzahl der Kolleg*innen, die sie schreiben können, aber immer weiter abnimmt. Sieben bis acht Gutachten müssen Kolleg*innen teilweise parallel zum Schulalltag schreiben – und das ist nur eine der Aufgaben, die in den letzten Jahren einen immer größeren Umfang angenommen hat. Gleichzeitig ist oft nicht mal mehr für jede Klasse ein*e Sonderpädagog*in da. „Wie sollen wir da denn noch die Schüler*innen angemessen fördern?“, fragen mich viele verzweifelt. 

Einem Kollegen im Gemeinsamen Lernen geht es ähnlich: Er arbeitet mit zehn Stunden als Sonderpädagoge in der Inklusion an einer Grundschule und unterstützt dort 21 Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in sechs verschiedenen Klassen. Für mich sind das unfassbare Zahlen. Der engagierte Kollege ist ziemlich am Ende: „Ich habe das Gefühl, ich reibe mich völlig auf und kann doch trotzdem weder den Kindern noch dem Kollegium gerecht werden. Aber gerade diese Kinder hätten meine Unterstützung doch besonders nötig.“ Berichte wie diese sind keine Einzelfälle, sondern geben wieder wie es an vielen Schulen in NRW aussieht.

Wenn Kolleg*innen sich an mich wenden, versuche ich sie so gut es geht zu unterstützen, aber langfristige Perspektiven kann ich ihnen aktuell leider nur schwer aufzeigen. Letztlich können wir nur in jedem Einzelfall prüfen, welche Entlastungs- und Unterstützungsmöglichkeiten es vor Ort gibt. 

Welche Folgen erwartest du für das Bildungssystem, die Lehrer*innen und die Schüler*innen, wenn das Ruder für die Sonderpädagogik nicht bald rumgerissen wird?

Viele Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Gemeinsamen Lernen erhalten die für sie nötige Förderung nicht. Das heißt für die Regelschulkolleg*innen im Gemeinsamen Lernen, dass sie neben ihrer Tätigkeit als Klassen- oder Fachlehrer*in allein dastehen mit der Förderung und den individuellen Unterstützungsbedarfen der Kinder und Jugendlichen. Ähnlich sieht es an den Förderschulen aus, in denen nicht mal mehr an allen Schulen für jede Klasse eine Sonderpädagog*in als Klassenlehrer*in im Einsatz ist.

Vieles wird vor Ort versucht aufzufangen durch den enormen Einsatz der Kolleg*innen. Das gelingt aber kaum noch, die Belastung steigt immer weiter und mehr Lehrkräfte werden dadurch krank.

Das Ruder muss die Politik jetzt schnell rumreißen, nicht die Kolleg*innen vor Ort. Dazu muss eine fundierte Prognose her, wie viele Sonderpädagog*innen in den kommenden Jahren benötigt werden. Bisher bleibt die Landesregierung darauf eine Antwort schuldig. Es wird lediglich auf Sicht gefahren und durch eine zu geringe Aufstockung der Studienkapazitäten und teure Werbekampagnen versucht, dem Lehrkräftemangel zu begegnen. Ein geplantes und vorausschauendes Handeln sieht anders aus. Genau das fordern wir als GEW NRW dringend ein! Denn wir sind es den Kindern und Jugendlichen und den Kolleg*innen schuldig.

Die Fragen stellte Sherin Krüger, Redakteurin im NDS Verlag.

Mitmachen bei #IhrFehlt für gute Schule

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