Seit den 1990er Jahren bestehen freundschaftliche Beziehungen der GEW NRW zu den russischen und ukrainischen Bildungsgewerkschaften in Moskau und Donezk. Begonnen hatten diese im Rahmen der Städtepartnerschaften Bochum und Donezk sowie Düsseldorf und Moskau. Im April 2017 reiste eine Delegation der GEW nach Moskau, um dort unter anderem die Vorsitzenden der Donezker Bildungsgewerkschaft Acja Gorschkowa zu treffen.
Vom 5. bis 8. März 2018 traten die Vorsitzende der Moskauer Bildungsgewerkschaft Marina Iwanowa und Irina Levchenko, die zuständig ist für die internationalen Beziehungen der Gewerkschaft, ihre Reise nach Deutschland an. Leider konnte Acja Gorschkowa aus Donezk aus verschiedenen Gründen nicht dabei sein.
Einsatz für soziale Anliegen und bildungspolitische Ziele
Bei einem Zusammentreffen in der Landesgeschäftsstelle stellte Dorothea Schäfer, Vorsitzende der GEW NRW, Schwerpunkte der gewerkschaftlichen Arbeit vor. Sie betonte, dass die Gewerkschaft sowohl für die sozialen Belange ihrer Mitglieder eintritt als auch für bildungspolitische Ziele.
Demgegenüber versteht die Moskauer Gewerkschaft sich – bedingt durch ihre Geschichte in der Zeit der Sowjetunion – als „unpolitisch“ und konzentrierte sich bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich auf die sozialen Anliegen ihrer Mitglieder wie Gehalt, Sozialversicherung und günstige Erholungsangebote. Im Gespräch wurde aber deutlich, dass ein bedeutender Wandel eingetreten ist.
Wandel der Gewerkschaftsarbeit in Moskau
Die Moskauer Gewerkschaft, die mit ihren 275.000 Mitgliedern unabhängig von der russischen Organisation mit rund vier Millionen Mitgliedern ist, mischt sich seit einigen Jahren in Fragen der Bildungspolitik ein. Schwerpunkte bilden die Themen Inklusion und Mitbestimmung in den einzelnen Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten, Hochschulen), die in Moskau dezentral verwaltet werden und über starke und eigenständige Leitungsstrukturen verfügen.
Schulische Inklusion im Fokus
Ähnlich wie bei uns ist Inklusion auch in Moskau ein großes Thema: Kinder mit Behinderung werden ermutigt, am Unterricht in normalen Klassen teilzunehmen, was wie bei uns zur Schließung von Förderschulen führt. Doch die ausgehandelten Bedingungen für gelingende Inklusion würden vor Ort oft verletzt, erläuterte Marina Iwanowa. Darüber gebe es heftige Debatten auch mit Eltern, denn die Schulen seien zunehmend Teil eines rigiden Ratingsystems.
Gute Bezahlung im Bildungsbereich zieht Nachwuchs an
Bei einem Besuch der GEW Düsseldorf im Anschluss an ein DGB-Frauenfrühstück am Internationalen Frauentag wurden einige Besonderheiten des Bildungssystems in Moskau und der Rolle der Gewerkschaft genauer beschrieben: So sei der unmittelbare politische Einfluss auf die Schulen eher gering. Denn im Moskauer Parlament, der Duma, gehe es höchstens um Budgetfragen. Alles andere werde zwischen der Verwaltung, den Schulleitungen und der Gewerkschaft ausgehandelt und in Vereinbarungen festgelegt.
Fragen der Schulausstattung und der Bezahlung der Lehrkräfte seien eher nachrangig, erklärte Marina Iwanowa: Die Schulen seien insgesamt sehr gut ausgestattet, was eine geringe soziale Selektion zur Folge habe. Die Gehälter im Bildungsbereich Moskaus seien vergleichbar gut und machten pädagogische Berufe für junge Leute sehr attraktiv.
Rolle der Gewerkschaft in Moskau
Worum kümmert sich also die Gewerkschaft vorrangig? Neben den traditionellen sozialen Aufgaben gehe es immer mehr um die zunehmende Belastung in der pädagogischen Arbeit sowie um die Förderung der Zusammenarbeit von Leitung und Personal in den recht weitgehend dezentral organisierten Bildungseinrichtungen.
Angesprochen auf die politische Situation in Russland erzählen die Kolleginnen, dass ein Gefühl der Stagnation verbunden mit wachsenden sozialen Problemen spürbar sei. Es werde in den Medien der Eindruck erweckt, Russland sei von Feinden umgeben, was zu einem verstärkten Nationalismus führe. Eine weit verbreitete ideologische Orientierungskrise werde durch Religion ersetzt, was auch zu einem Druck auf die Schulen führe, in denen traditionell eine strikte Trennung von Schule und Religion gelte.
80 Prozent Frauen in der Moskauer Bildungsgewerkschaft
Ein großes Thema für die Gewerkschaft ist die Einbeziehung und Bindung von jungen Leuten an die Gewerkschaft, die übrigens einen Frauenanteil von mehr als 80 Prozent aufweist. Marina Iwanowa fordert auch eine Debatte über die Zukunft der Gewerkschaften angesichts tiefgreifender ökonomischer Veränderungen und einer stärkeren Individualisierung ein und sieht sich dabei am Beginn eines sehr schwierigen Prozesses.
Kampf für Gleichstellung
Ein Höhepunkt des Besuchs war ein Empfang im Düsseldorfer Rathaus, bei dem Oberbürgermeister Thomas Geisel die Gäste begrüßte. Der Tag wurde abgeschlossen durch eine Besichtigung der neuen Düsseldorfer Fachhochschule und der Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus. Am Tag vorher hatten sich die Gäste im Ruhrmuseum Essen über die Sozialgeschichte des Ruhrgebiets informiert. Vor dem Rückflug am 8. März bot das Frauenfrühstück des DGB in Düsseldorf nicht nur einen feierlichen Rahmen zum Weltfrauentag, sondern auch einen guten Einblick in den gewerkschaftlichen Kampf für Gleichstellung.
Austausch zwischen Moskau und NRW fördern
Für die weitere Zusammenarbeit unserer Gewerkschaft mit den Moskauer Kolleg*innen wurden mehrere interessante Felder angesprochen: Marcus Boxler von der jungen GEW NRW nahm in 2017 an einem Bildungscamp in Russland teil – der Austausch von jungen Leuten soll weiterhin gefördert werden. Moskauer Kolleg*innen könnten schon bald bei der GEW und in Schulen hospitieren. Insgesamt soll der Informationsaustausch verstärkt werden. Auch gemeinsame Workshops sind vorstellbar.
Die Zusammenarbeit mit den Moskauer und Donezker Bildungsgewerkschaften wird in einer Arbeitsgruppe koordiniert, die offen ist für weitere Interessent*innen. Mehr Infos per E-Mail an Manfred.Diekenbrock[at]gew-nrw.de