Das Schulministerium hat den Erlass bereits im Februar herausgegeben und darüber entgegen der Gepflogenheiten weder öffentlich informiert noch den Landtag einbezogen. Auch die Fachverbände der Schulen, Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern wurden erst im Nachhinein informiert. Die Kritik des Bündnisses für inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen entzündet sich vor allem an zwei Neuerungen des Erlasses:
1. Einschränkung des inklusiven Schulangebots für Kinder mit körperlichen, geistigen und Sinnesbehinderungen
Im Text postuliert das Ministerium den Grundsatz „Kurze Beine – kurze Wege“ für eine wohnortnahe Beschulung von Kindern mit Behinderung. Die Regelungen zielen jedoch auf das genaue Gegenteil. Wie in der Sekundarstufe sollen inklusive Schulen nun auch im Grundschulbereich nicht mehr Schüler*innen aller Förderbedarfe aufnehmen, sondern von der Schulaufsicht nur für einzelne Förderbedarfe genehmigt werden. Damit werden Schüler*innen mit körperlichen, geistigen und Sinnesbehinderungen schon bei der Einschulung absehbar deutlich längere Schulwege auferlegt werden.
Das Bündnis für Inklusive Bildung in NRW sieht damit den Charakter der Grundschule als einziger unbestrittener Schulform für alle Kinder in Gefahr. „Wenn für jede Grundschule im Land entschieden werden muss, ob sie überhaupt als „Schule des Gemeinsamen Lernens“ gilt und damit potentiell Zugang zu zusätzlichen sonderpädagogischen und sozialpädagogischen Ressourcen erhält, widerspricht dies in elementarer Weise dem Recht des Kindes auf eine inklusive Bildung“, sagt Bernd Kochanek, Vorsitzender des Inklusionsfachverbands Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V.. „Wenn darüber hinaus eine nach Erlass definierte Grundschule des Gemeinsamen Lernens nur für bestimmte Förderschwerpunkte „zugelassen“ wird, wird dies die Diskriminierung und Ausgrenzung von Kindern erheblich verstärken.“
2. Die breite Besetzung von Sonderpädagog*innen- und Lehrer*innenstellen durch nicht für den Unterricht ausgebildetes Personal
Im Erlass wird weiter eine Qualitätsverbesserung in inklusiven Schulen behauptet. Tatsächlich legen die Eckpunkte des zugehörigen Erlasses für die Personalausstattung aber im Gegenteil eine qualitative Verschlechterung fest: Das Personal für die Inklusion in Grundschulen muss demnach nicht mehr aus Sonderpädagog*innen, ja nicht einmal aus Lehrkräften bestehen, sondern kann durch „Fachkräfte anderer pädagogischer Berufsgruppen“ ersetzt werden. Damit droht die Gefahr, dass Kinder mit Behinderung weitgehend von nicht-lehrendem Personal „unterrichtet“ werden.
Die vom Schulministerium behauptete Verbesserung der Personalausstattung durch den Erlass ist ein „potemkinsches Dorf“, so Ayla Çelik, stellvertretende Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW. Die Erarbeitung inklusiver Schulkonzepte scheitere oft an der fehlenden Personalausstattung und der fehlenden sächlichen und räumlichen Ausstattung. Çelik betont: „Um den Fachkräftemangel zu kompensieren, legt das Ministerium nun ein Konzept vor, das multiprofessionelles Arbeiten an Grundschulen ohne ausreichende Ressource an ausgebildeten Lehrer*innen vorsieht. Das ist nicht hinnehmbar. Es geht zu Lasten der Qualität der inklusiven Bildung und zu Lasten der Kinder, der Eltern und der Beschäftigten.“
Als unglaubwürdig bezeichnen die Vertreter*innen des Bündnisses darüber hinaus die Festlegung von Qualitätskriterien für inklusive Grundschulen, die seit der „Neuausrichtung“ der Inklusion schon für die Schulen der Sekundarstufe behauptet, aber niemals eingelöst worden sind. Die Fortbildung des Kollegiums gelte als erfüllt, wenn einzelne Lehrkräfte beliebige Fortbildungen besuchen. Und die Versorgung der Schulen mit sonderpädagogischer Expertise stehe vielerorts nur auf dem Papier.
Statt Flickschusterei und Mangelverwaltung bräuchten die Grundschulen endlich eine transparente und wirksame Strategie für die Verwirklichung des selbstverständlichen und qualitätvollen Gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderung am Wohnort.
Das Bündnis für inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen fordert Schulministerin Gebauer auf dafür zu sorgen, dass alle Kinder mit Behinderung die wohnortnahe Grundschule besuchen können und dort die Bedingungen vorfinden, die ihnen bestmögliche Bildung ermöglichen.
- Dafür müssen Grundschulen personell besser ausgestattet werden,
- Dafür muss das Unterrichten die Aufgabe von Lehrkräften bleiben,
- Dafür müssen ALLE Grundschullehrer*innen nachhaltig für Inklusion fortgebildet werden,
- Dafür muss gewährleistet sein, dass „multiprofessionelle“ Kräfte ausschließlich für zusätzliche pädagogische Aufgaben eingesetzt werden.
Das Bündnis fordert die Landesregierung weiterhin auf, endlich die Lehrer*innenausbildung in Gänze für die individuelle Förderung und das Unterrichten in inklusiven Klassen umzugestalten.
Ihre Ansprechpartner*innen
Ayla Celik
stellvertretende Vorsitzende der GEW NRW
Tel +49 151 74320076
Bernd Kochanek
Vorsitzender von Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. –
Tel +49 173 9713099
Xueling Zhou
Vorstandsmitglied der LSV NRW
Tel +49 1573 2381724
Hintergrundinformationen zum Bündnis für inklusive Bildung
Das Bündnis für inklusive Bildung in Nordrhein-Westfalen hat sich im Juni 2018 gegründet und besteht aus 40 Organisationen. Neben zahlreichen Elternvereinen, der Bildungsgewerkschaft GEW und der Landesschüler*innenvertretung zählen zu den Mitgliedern u.a. auch der Landesbehindertenrat, die LAG Selbsthilfe, die Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben NRW und die Sozialverbände SoVD und VdK.
In ihrer Gründungserklärung hatten die Verbände unter anderem eine deutlich bessere personelle und sächliche Ausstattung der nordrhein-westfälischen Schulen gefordert. Dazu gehörten erheblich verstärkte Fortbildungsanstrengungen für inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung und eine Steigerung der pädagogischen Qualität des gemeinsamen Lernens. Im Gegenzug zum in Zahl und Qualität steigenden Angebot an inklusiver Bildung seien Förderschulen abzubauen.
Die Schwierigkeiten, die bisher bei der Einführung der inklusiven Bildung aufgetreten seien, dürften nicht zum Anlass genommen werden, Inklusion zu relativieren: „Wenn bei der Umsetzung einer politischen und gesellschaftlichen Aufgabe Schwierigkeiten entstehen, dann ist es Aufgabe der Politik, diese Schwierigkeiten mit geeigneten Maßnahmen zu überwinden - und nicht, das Ziel in Frage zu stellen“, heißt es in der Gründungserklärung.