GEW NRW: Unternehmen stellen Lehrkräften immer häufiger kostenlose Unterrichtsmaterialien zur Verfügung – praktische Unterstützung oder mit Vorsicht zu genießen?
Prof. Dr. Tim Engartner: Die Einflussnahme von Unternehmen, Verbänden sowie Industrie- und Handelskammern ist gewaltig. Allein 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen produzieren Unterrichtsmaterialien. Ob Daimler, Deutsche Bank oder Commerzbank – es gibt kaum ein bedeutendes Unternehmen, das nicht mit eigenen Unterrichtsmaterialien in die Schulen drängt. Das heißt, wir haben es mit einem Massenphänomen zu tun. Teile der Wirtschaft versuchen, die neutrale Bildungsinstitution Schule zu kapern. Es findet buchstäblich ein Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer statt. Angesichts immer knapperer Budgets für die Anschaffung von Schulbüchern ist es verständlich, wenn Lehrer*innen auf Unterrichtsmaterialien privater Content-Anbieter zurückgreifen, aber sie sollten dies besser lassen. Zu viele der Unterrichtsmaterialien sind tendenziös oder gar manipulativ.
Braucht es eine übergeordnete Prüfinstanz für diese Materialien? Und solange Lehrkräfte auf sich allein gestellt sind: Welche Tipps würden Sie ihnen geben, wenn es um die Beurteilung solch kostenloser Materialien geht?
Bei Schulbüchern sind die Vorgaben eindeutig: Sie bedürfen in den meisten Bundesländern der Zulassung durch das zuständige Kultusministerium, wobei der Genehmigung in der Regel ein engmaschiges Begutachtungsverfahren vorausgeht. Alle anderen Unterrichtsmaterialien durchlaufen kein Lizensierungsverfahren, obwohl sie inzwischen häufig in deutlich höheren Auflagen als Schulbücher in die Klassenzimmer gelangen – zumeist in Klassensatzstärke, gänzlich kostenfrei sowie von Privatunternehmen oder unternehmensnahen Stiftungen finanziert. Nachvollziehbar ist diese „Zwei-Klassen-Behandlung“ nicht.
Legitimieren lässt sich die Forderung nach einer staatlichen Prüfstelle für Unterrichtsmaterialien aber nicht nur damit, dass eine Vielzahl der sozialwissenschaftlichen Unterrichtsmaterialien selektiv, tendenziös und manipulativ ist. Ein eindeutiges Qualitätssiegel böte auch denjenigen Lehrer*innen Orientierung, die sozialwissenschaftliche Fächer ohne entsprechende Facultas unterrichten. Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen als schulpolitisch verantwortliche Instanzen dafür sorgen, dass die lobbyistisch motivierte Einflussnahme auf Schulen nicht weiter um sich greift.
Bis dahin müssen wir an Schulen und Hochschulen gemeinsam wachsam sein. Lehrer*innen sollten sorgfältig die Quellen in den Blick nehmen, aus denen die Materialien stammen. Meist lässt sich dann bereits unmittelbar erklären, warum Energiekonzerne für Fracking, Finanzdienstleister für die private Altersvorsorge und Automobilkonzerne für individuelle Mobilität werben.
Warum nehmen Sie am Bochumer Kongress teil? Was erwarten Sie von der Veranstaltung?
Mir kommt es derzeit beinahe so vor, als befände sich die „Bildungsrepublik Deutschland“ in einem permanenten Ausnahmezustand. Die Diskussion um G8, die Herausforderungen der Inklusion, die systematische Privatisierung von Bildung sowie der lobbyistisch motivierte Einfluss auf Unterrichtsmaterialien und Curricula. Ich erhoffe mir vom Bildungskongress wertvolle Impulse für die bildungspolitische Debatte.