Schule 18.04.2017

Ist Hamburg ein Vorbild für Inklusion?

Ist Hamburg ein Vorbild für Inklusion?

Kommission Inklusion der GEW NRW besucht zwei Beispielschulen

Auf der Suche nach Erfolg versprechenden Beispielen einer inklusiven Schulentwicklung in der Sekundarstufe I machte sich die Kommission Inklusion der GEW NRW auf den Weg nach Hamburg.

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Kurz nach der Unterzeichnung der UN-Behindertenkonvention im Jahr 2009 führte die Stadt Hamburg das Elternrecht auf freie Schulwahl für ihre Kinder ein (Paragraf 12 des Hamburger Schulgesetzes). Auch in der Schulstruktur hat sich seitdem einiges verändert. Nach der vierjährigen Grundschule – als Schule für alle Kinder – bietet der Stadtstaat in der Sekundarstufe nur noch zwei Schulformen an, die Stadtteilschule einerseits und das Gymnasium andererseits. Förderschulen sollen weitgehend auslaufen. Zur Begleitung und Unterstützung des Inklusionsprozesses hat Hamburg 13 Regionale Bildungs- und Beratungszentren eingerichtet.

Die Kommission Inklusion der GEW NRW wollte wissen, welchen Einfluss die äußere Schulentwicklung auf die schulische Inklusion hat und wie sich der Unterricht konkret verändert, damit alle Schüler*innen gleichermaßen Lernerfolge erfahren. Sie besuchte einige Stadtteilschulen, die langjährige Erfahrung im Umgang mit Schüler*innen mit und ohne Beeinträchtigungen haben. Die Wahl fiel auf die Stadtteilschule Hamburg Bergedorf und die Stadtteilschule Reformschule Hamburg Winterhude. Die Stadtteilschule Bergedorf beschult Schüler*innen der Klassen 5 bis 13; die Stadtteilschule Reformschule Winterhude von der Vorstufe (0) bis Klasse 13. Die Winterhuder Schule arbeitet außerdem jahrgangsübergreifend.

Zwei Stadtteilschulen mit Blick auf das Kind

Die Schulleitungen der Hamburger Stadtteilschulen haben sich in einem Positionspapier zu einem Leitbild verpflichtet. Beide Schulen haben in ihren Konzeptionen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung ihr pädagogisches Profil dargestellt und ihren Unterricht konsequent danach ausgerichtet. Ziel ist es, „Schülerinnen für ihr Lernen zu begeistern“. Lernen wird verstanden als aktiver, höchst individueller und sehr persönlicher Prozess. Der Unterricht setzt bei den Lernvoraussetzungen an, die einzelne Schüler*innen mitbringen. Auf dieser Grundlage können sie sich auf vielfältige Weise aktiv in den Unterricht einbringen, erzielen beobachtbare individuelle Lernfortschritte und sichern ihre Lernfreude.

Lernziele erreichen ohne Zensuren

Die Schüler*innen erhalten in einem gemeinsamen Planungsgespräch vereinbarte Arbeitspläne und entscheiden selbstständig über die Aufgabenreihenfolge und das Lerntempo. Ein Feedback über ihre Lernerfolge erfahren die Schüler*innen durch eine engmaschige Rückmeldekultur der Lehrkräfte. Bis zur achten beziehungsweise neunten Klasse sind keine Zensuren und keine Klassenwiederholungen vorgesehen. Die Schüler*innen führen in Winterhude ein sogenanntes Logbuch, in dem vor allem die wöchentlichen Lernfortschritte selbst- und fremdeinschätzend festgehalten sind. Die Eltern nehmen dies durch Gegenzeichnen zur Kenntnis. In halbjährlichen Abständen finden anstelle der Zeugnisvergabe Bilanz- und Zielgespräche der Lehrkräfteteams mit den Schüler*innen und Eltern statt.

Jahrgangsübergreifend gemeinsam lernen

Die Winterhuder Reformschule ging auch in der Überwindung herkömmlicher schulorganisatorischer Strukturen sehr weit, indem durchgängig jahrgangsübergreifend unterrichtet wird. In der Primarstufe lernen alle Schüler*innen von der Vorstufe bis zur Klasse 4 gemeinsam, in der Sekundarstufe I in jahrgangsübergreifenden Teams der Klassen 5 bis 7 und 8 bis 10. Auch in der Oberstufe wird jahrgangsübergreifend in den Klassen 11 bis 13 gearbeitet.

Unterricht im Klassenlehrer*innenprinzip und im Team

In Bergedorf arbeitet das Kollegium in festen Teamstrukturen und nach dem Klassenlehrer*innenprinzip. Zu einem Team gehört auch eine Lehrkraft der Sonderpädagogik sowie Sozialpädagog*innen und/oder Heilpädagog*innen. Teamarbeit und kollegiale Kooperation zählen zu den wichtigsten Voraussetzungen für gelingenden Unterricht. Fortbildung, Coaching, Zeit für Konzeptentwicklung, Absprachen und gemeinsame Beratung sind fest eingeplant. Die Stellen für die sonderpädagogische Förderung sind zu 40 Prozent mit Lehrkräften für Sonderpädagogik und zu 60 Prozent mit Sozialpädagog*innen besetzt.

Unterstützung durch Regionale Bildungs- und Beratungszentren

2012 sind 13 regionale Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) aus den damaligen Förder- und Sprachheilschulen sowie den regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) hervorgegangen. Im Sinne des Elternwahlrechtes unterstützen die ReBBZ die Umsetzung und Weiterentwicklung der inklusiven Bildung, indem sie den Bildungsweg der einzelnen Schüler*innen konsequent begleiten und gleichzeitig Systeme für den Umgang mit Bildungshemmnissen etablieren.

Zwei-Säulen-Modell entspricht nicht GEW-Forderung

Den Stadtteilschulen ist es gelungen, die Übertrittsquoten in die Klasse 11 seit 2011 kontinuierlich zu steigern. Wichtige Voraussetzung dafür ist eine bessere Lehrer*innen-Schüler*innen-Relation und niedrigere Klassenfrequenzen als an den Gymnasien. Die Stadtteilschulen sind diejenigen, die die Inklusion zielgleich und zieldifferent zu fördernder Schüler*innen tragen. Die Gymnasien nehmen nur die zielgleich zu fördernden Schüler*innen auf. Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung in der Inklusion werden auch in Hamburg nicht in ausreichendem Maße bereitgestellt. Die Schulleitungen können entscheiden, mit welchen Anteilen sie die den Schulen bereitgestellten Stellen für die sonderpädagogische Förderung mit Lehrkräften für Sonderpädagogik oder mit Sozialpädagog*innen besetzen.

Hamburg macht mit der Einführung eines Zwei-Säulen-Modells neugierig. Das Modell erfüllt allerdings nicht die GEW-Forderung „Eine Schule für alle Kinder“. Die Öffnung des Unterrichts zu selbstbestimmtem Lernen und die jahrgangsübergreifende Organisation erscheint als wichtigste Voraussetzung für einen inklusiven Unterricht. Durch die verstärkte Heterogenität der Schülerschaft steht notwendigerweise der Blick auf die einzelnen Schüler*innen und die individuelle Förderung im Vordergrund. Beide Schulen haben noch viel Potenzial und zeigen auch die Motivation, sich weiterzuentwickeln. Für ein inklusives Schulsystem ist jedoch das Zwei-Säulen-Modell keine Perspektive, da es weiterhin eine soziale Auslese erzeugt. Die beiden Säulen werden sich, wenn bildungspolitisch nicht gegengesteuert wird, weiter voneinander entfernen.


Dr. Ilse Führer-Lehner, Organisatorin der Reise der Kommission Inklusion
Gerd Weidemann, Vorsitzender der Kommission Inklusion