lautstark. 03.02.2025

Geld, Urlaub oder Freizeit – was darf‘s sein?

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EVG-Wahlmodell: Tarifpolitik für mehr Selbstbestimmung

Lebens- und Berufswege sind vielfältig und eine moderne Tarifpolitik sollte den unterschiedlichen Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung tragen. Das Thema Arbeitszeit beschäftigt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) deshalb schon lange. Sie setzt auf individuelle Wahlmöglichkeiten.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2025 | Sprache. Macht. Teilhabe.
  • Autor*in: Neithard von Böhlen
  • Funktion: Vorsitzender des Landesverbandsvorstands der EVG Nordrhein-Westfalen
Min.

In der Tarifrunde 2016 bei der Deutschen Bahn AG ist der EVG ein echter Durchbruch beim Thema Arbeitszeit gelungen. Sie hat ein Wahlmodell entwickelt und in schwierigen Tarifverhandlungen durchgesetzt, das durch seine Einfachheit besticht: Die Kolleg*innen konnten damals zusätzlich zur vereinbarten Entgelterhöhung auswählen zwischen sechs Urlaubstagen, 2,6 Prozent mehr Geld oder mehr Freizeit in Form einer Arbeitszeitverkürzung von einer Stunde pro Woche.

Moderne Tarifpolitik: Das EVG-Wahlmodell wird vielfältigen Lebens- und Berufswegen gerecht

Vorausgegangen war der Ruf vieler Beschäftigter, mehr über ihre eigene Zeit bestimmen zu wollen. Das hatte eine Mitgliederbefragung der EVG ergeben. Insbesondere Kolleg*innen mit Kindern wünschten sich mehr Freiraum, um Familie und Beruf besser in Einklang zu bringen. Aber nicht nur bei Familien mit kleinen Kindern ist Arbeitszeit ein Thema: Die Pflege von Angehörigen stellt immer größere Anforderungen an viele Beschäftigten und auch die Schichtarbeit bringt besondere gesundheitliche Anforderungen mit sich. 

Für die Beschäftigten war das EVG-Wahlmodell eine Sensation! Selbst zwischen drei Alternativen entscheiden zu können – das hatte es bisher noch bei keinem Tarifvertrag gegeben. Das hat die EVG als erste Gewerkschaft überhaupt für ihre Mitglieder erreicht. In der Tarifrunde 2018 hat die EVG ihr Wahlmodell weiterentwickelt und zu den schon vereinbarten sechs Tagen bezahltem Mehrurlaub kamen weitere sechs Tage dazu. Seither können Beschäftigte wählen, ob sie bis zu zwölf Tage bezahlten Mehrurlaub wollen oder entsprechend mehr Geld. Auch bei der Arbeitszeitverkürzung kam 2018 eine weitere Stunde dazu.

Dickes Plus in Zeiten des Fachkräftemangels: Auch für Arbeitgeber lohnt sich das Wahlmodell

Obgleich der Arbeitgeber sich anfänglich heftig diesem Modell widersetzte, nutzt er nun in Zeiten des Fachkräftemangels ebendieses zur Personalneugewinnung. Fahrgäste finden nicht selten auf Tischen im Bordbistro oder an Werbetafeln im Fernverkehr die gezielte Frage des Unternehmens an potenzielle Mitarbeiter: „Du willst selbst zwischen mehr Geld und mehr Urlaub entscheiden?“ 

Begleitet wurde diese Arbeitgeber-Kampagne auch durch prominente Medienbeiträge, etwa in der Bild-Zeitung. Doch die Eisenbahn ist mehr als nur die Deutsche Bahn. Auf dem Schienennetz in Deutschland fuhren 2024 mehr als 450 Unternehmen im Personenverkehr – die meisten davon im Regionalverkehr – sowie im Schienengüterverkehr. Um das Branchenniveau einheitlich zu entwickeln, hat die EVG in den meisten EVG-Tarifverträgen mittlerweile das volle Wahlmodell durchsetzen können.

Flexibel wie das echte Leben: Mit dem EVG-Wahlmodell jährlich neu entscheiden

Bei der Wahl zwischen mehr Urlaub, mehr Geld und mehr Freizeit durch Arbeitszeitverkürzung haben die Beschäftigten zwei klare Favoriten: mehr Urlaub oder mehr Geld. Knapp 50 Prozent haben sich zuletzt für mehr Urlaub entschieden, entweder die vollen zwölf Tage oder sechs Tage mehr. Die zusätzlichen Urlaubstage sind auch deshalb beliebt, weil sie im Gegensatz zur Arbeitszeitabsenkung rechtlich bindend sind. 

Weitere knapp 50 Prozent der Beschäftigten entschieden sich für mehr Geld. Welche Option gewählt wird, hängt vor allem von der Lebensphase ab, und weil sich diese Phasen bekanntlich ändern, bleibt auch das EVG-Wahlmodell flexibel: Jedes Jahr können die Kolleg*innen neu zwischen den verschiedenen Optionen wählen.

Zukunftsthemen Zeit und Geld: EVG entwickelt Wahlmodelle kontinuierlich weiter

Die EVG bleibt anders als beispielsweise die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) auch in den kommenden Tarifrunden im „Team Wahlmodell“, auch wenn sie ihre Ansätze weiterentwickelt. Weil Arbeitszeitabsenkungen vor allem im Schichtdienst häufig durch Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf verpuffen können, setzt die EVG auf mehr planbare Freizeit, die tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt. Mitgliederbefragungen zu den Tarifrunden 2024 und 2025 bestätigen, dass das für die Beschäftigten der richtige Weg ist. Für die Weiterentwicklung der eigenen Tarifarbeit schaut sich die EVG auch bei ihren Schwestergewerkschaften um. 

Mit dem tariflichen Zusatzgeld hat beispielsweise die IG Metall ein echtes Erfolgsmodell für ihre Mitglieder entwickelt. In Anlehnung daran hat die EVG bei der Tarifrunde mit den nichtbundeseigenen Bahnen (NE-Bahnen) im Dezember 2024 erstmals das Modell EVG-ZUG – kurz für Zusatzgeld – durchgesetzt. Das Besondere daran: Alle erhalten mehr Geld, aber Schichtarbeitende im Wechselschichtdienst, pflegende Angehörige oder Eltern, die Kinder unter 12 Jahren betreuen, erhalten zusätzlich freie Tage. In Zukunft möchte die EVG dieses Modell für besonders belastete Beschäftigte weiterentwickeln, um noch mehr Selbstbestimmung in der Arbeits- und Freizeitgestaltung durchzusetzen.

Für die Beschäftigten war das EVG-Wahlmodell eine Sensation! Selbst zwischen drei Alternativen entscheiden zu können – das hatte es bisher noch bei keinem Tarifvertrag gegeben.