Bei der Antragstellung auf Anerkennung einer Schwerbehinderung ist es wichtig zu wissen, welche Bewertungsgrundlagen der Entscheidung der zuständigen Stellen zugrunde liegen.
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze, die in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) veröffentlicht werden, bieten den rechtlichen Rahmen für die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) und der Anerkennung weiterer gesundheitlicher Merkmale: Wie arbeitet also eine Schwerbehindertenvertretung (SBV) täglich mit dieser Verordnung, um den Einzel-GdB zu bestimmen, aus dem sich der Gesamt-GdB ergibt?
Einzel-GdB: So wird der Grad der Behinderung ermittelt
Im Teil B der VersMedV werden – sortiert nach Körperbereichen – Gesundheitsstörungen je nach Stärke der Beeinträchtigung Einzel-GdB zugeordnet. Für Gesundheitsstörungen, die nicht aufgeführt sind, kann ein Vergleich mit aufgeführten Beeinträchtigungen herangezogen werden.
Beurteilungsspannen ermöglichen den Beurteiler*innen die Besonderheiten des Einzelfalls mit zu berücksichtigen. Der Einzel-GdB für eine Beeinträchtigung ergibt sich aus Messwerten und aus funktionellen Beeinträchtigungen.
Praxisbeispiel zur Beurteilung einer Schwerbehinderung
Mit dem Beispiel „Krankheiten der Atmungsorgane mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion“ wird das gesamte Verfahren praxisnah beschrieben: Die VersMedV sieht eine Beeinträchtigung geringen Grades mit einer Beurteilungsspanne von 20 bis 40 vor für „das gewöhnliche Maß übersteigende Atemnot bei mittelschwerer Belastung (z. B. forsches Gehen [5 – 6 km/h], mittelschwere körperliche Arbeit); statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte, Blutgaswerte im Normbereich“.
Die Beurteilung erfolgt unter Berücksichtigung der VersMedV in der Regel nach Aktenlage. Deshalb ist es wichtig, sowohl in der eigenen Begründung der Antragstellung als auch in den Stellungnahmen der behandelnden (Fach-)Ärzt*innen, die Auswirkungen der Beeinträchtigung deutlich darzustellen und wenn möglich die Beeinträchtigungen durch Messwerte zu belegen.
Beim Beispiel könnte das durch die Formulierung „Zügiges Gehen und mittlere körperliche Arbeiten führen zu Atemnot“ dargestellt und durch Ergebnisse einer Lungenfunktionsprüfung belegt werden. Wichtig ist dabei eine intensive Kommunikation mit den behandelnden (Fach-)Ärzt*innen.
Gesamt-GdB: So wird das Ausmaß der Behinderung insgesamt ermittelt
Im Teil A der VersMedV werden allgemeine Grundsätze dargestellt. Besonders wichtig ist Punkt 3: Er beschreibt, wie der Gesamt-GdB festgelegt wird. Es gibt keine rechnerische Methode der Bestimmung. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
In der Regel wird von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB ausgegangen. Danach wird geprüft, ob wegen weiterer Funktionsbeeinträchtigungen das Ausmaß der Behinderung größer wird und dementsprechend dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Meist führen leichte Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Auch leichte Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 führen nicht immer zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB.
Durch welche Faktoren steigt der Gesamt-GdB?
Von der Erhöhung des Gesamt-GdB ist eher auszugehen, wenn die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Und ebenso, wenn sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt.
Das ist vor allem der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen oder Organen vorliegen – beispielsweise an beiden Armen, beiden Beinen, beiden Nieren oder beiden Augen.
Die Auswirkungen der Beeinträchtigungen auf verschiedene Bereiche des Lebens sollte dementsprechend bei der Antragstellung anschaulich dargestellt werden.
Wann ändert sich der Gesamt-GdB gegenüber dem Einzel-GdB nicht?
Falls sich die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen überschneiden oder die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt werden, ist nicht mit einer Erhöhung des Gesamt-GdB zu rechnen.
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB sind auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu beachten. Dementsprechend sollte auf eine besondere Schmerzsymptomatik und auf extreme seelische Beeinträchtigungen deutlich hingewiesen und diese im Idealfall auch ärztlich bestätigt werden.
Die VersMedV bietet Interpretationsspielraum, daher sollten sich Antragssteller*innen insbesondere im Fall eines Widerspruchs auf die Unterstützung der Schwerbehindertenvertretung und gegebenenfalls eines Fachanwalts verlassen.
Anmerkungen
- In der VersMedV wird das Kürzel GdS für Grad der Schädigungsfolgen verwendet. Der Artikel verwendet das Kürzel GdB für Grad der Behinderung, das auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von der Ursache bezogen ist.
- Literatur für SBV und Antragssteller*innen: Ulrich, Wendler, Martin Schillings: Versorgungsmedizinische Grundsätze – Kommentar, 8. Auflage (ISBN 978-3-9808427-7-8)