Für alle, die berufsbegleitend das Abitur nachholen wollen, war das Abendgymnasium traditionell die erste Wahl. Die Voraussetzung für den erfolgreichen Besuch ist jedoch, an fünf Tagen in der Woche ab circa 17.30 Uhr am Unterricht teilnehmen zu können – in der Regel drei Jahre lang. Was tun, wenn diese Unterrichtszeiten aufgrund der wachsenden beruflichen Anforderungen wie zum Beispiel Schichtdienst nicht einzuhalten sind? Ein Problem, das sich bereits seit der Jahrtausendwende einer immer größeren Zahl von Interessierten stellt.
Unterricht in der Schule und selbstständiges Lernen in Moodle
Um auch diesen Berufstätigen die Möglichkeit zur Weiterqualifikation in der Freizeit zu geben, gibt es in Nordrhein-Westfalen bereits seit 2002 abitur-online.nrw, einen abendgymnasialen Bildungsgang im sogenannten Blended-Learning-Format – einer Verbindung aus Unterricht in Präsenz und individueller Arbeit mithilfe einer internetbasierten Lernplattform.
Konkret: Die eine Hälfte der Unterrichtszeit findet in traditioneller Form in der Schule statt, die zweite Hälfte jedoch dezentral zu selbstgewählten Zeiten in selbstständiger Unterrichtsarbeit auf der Lernplattform Moodle. Dort müssen aufgabengeleitet und materialgestützt auch neue Lerninhalte erarbeitet werden. Darin unterscheidet sich die Distanzphase von den klassischen Hausaufgaben zur Vertiefung bereits im gemeinsamen Unterricht erarbeiteter Inhalte. Am Ende der Qualifikationsphase gehen die Onliner*innen in dieselben zentralen Abiturprüfungen wie die Studierenden des klassischen Abendgymnasiums oder des Kollegs.
Mit viel Selbstdisziplin über das Abitur zum Studium
Während 2002 nur zehn Weiterbildungskollegs diesen frühen Weg in die unterrichtsersetzende Arbeit mit digitalen Medien gegangen sind, bieten inzwischen fast 20 Weiterbildungskollegs in NRW und drei in Rheinland-Pfalz abitur-online.nrw an. Das Westfalen-Kolleg in Dortmund ist von Anfang an dabei. Hier findet die Präsenzunterrichtszeit freitagabends und samstags statt, was für viele Berufstätige besonders günstig ist. Ein Studierender des aktuellen fünften Semesters bringt die speziellen Anforderungen seines Bildungsgangs auf den Punkt:
„Ich habe für mich entschieden das Abitur nachzuholen, weil ich gerne Humanmedizin studieren möchte. Beruflich bin ich als Gesundheits- und Krankenpfleger im Schichtdienst unterwegs. Daher erschien mir der Bildungsgang abitur-online.nrw am Westfalen-Kolleg Dortmund als die optimale Lösung, um meinem Traumstudium näherzukommen.
Es ist etwas befremdlich zu wissen, nur an zwei Tagen in der Woche zur Schule kommen zu müssen. Das klingt erst einmal erfreulich, jedoch findet der reguläre Unterricht freitagabends und am Samstag statt. Ich glaub an dieser Stelle überlegt man es sich ein zweites Mal, ob dieser Bildungsgang etwas für einen ist. Mit der Online-Plattform Moodle kann man sich selbst organisieren, wann und wo man etwas in der Distanzphase für die Schule erledigt. Über schulinterne Foren kann man sich austauschen oder auch Lerngruppen verabreden.
Das Schöne: Man kann nahezu von allen Geräten aus auf Moodle zugreifen und mal eben checken, was für die laufende Woche so ansteht. Hört sich alles erst einmal einfach an – braucht aber auch viel Selbstdisziplin. Zwar arbeitet man größtenteils eigenverantwortlich und kann seine Zeit selbst einteilen, jedoch werden in der Regel die Distanzaufgaben, also umfangreichere Hausaufgaben, mit Fristen auf der Online-Plattform versehen. Diese rechtzeitig zu bearbeiten war nicht immer einfach und stressfrei, aber das ist die beste Übung für das eigene Zeitmanagement.“
Lehrer*innen coachen individuelle Lernprozesse
Auch die Lehrkräfte werden durch Blended Learning in anderer Weise gefordert. Die Halbierung der Unterrichtszeit in Präsenz bedeutet für sie keinesfalls die Halbierung ihrer Arbeitszeit. Während man spontan glauben könnte, dass die technische Beherrschung der Lernplattform und anderer Programme schwierig sein könnte, hat die Erfahrung gezeigt, dass die Veränderung der Lehrer*innenrolle hin zum Coaching individueller Lernprozesse die größere Herausforderung ist.
Eine sinnvolle Verzahnung von Präsenz- und Distanzunterricht ist entscheidend für den Lernerfolg, was die Reihenplanung um neue Parameter erweitert. So muss bedacht werden, welche Kompetenzen in den verschiedenen Fächern besonders gut, nur erschwert oder möglicherweise gar nicht in der Distanzphase erworben werden können. Hier sei nochmals klar gesagt, dass die Distanzphasen nicht auf Habitualisierung beschränkt sind!
Tests, Gruppenarbeit und gegenseitige Kontrolle in Moodle
Moodle hält viele Möglichkeiten bereit, um Kompetenzen in den Bereichen Diskussion, Reflexion und Evaluation zu erwerben und zu erweitern. Das kann zum Beispiel durch gegenseitige Aufgabenkorrektur der Studierenden (peer assessment), durch Abschlusskontrolle von Aufgaben gekoppelt an Tests – das heißt, eine Aufgabe wird als erfolgreich bearbeitet gewertet, wenn ein Abschlusstest bestanden wurde – oder durch die Beteiligung an Forendiskussionen umgesetzt werden.
Auch ist Moodle darauf angelegt, die Zusammenarbeit der Lernenden zu fördern: Eine Gruppenarbeit kann im Präsenzunterricht begonnen werden, wird in der Distanzphase fortgesetzt und parallel reflektieren die einzelnen Gruppenmitglieder ihren individuellen Lernprozess in einem Blog. Das Ergebnis der Gruppenarbeit kann dann in der nächsten Präsenzphase dem Plenum präsentiert werden.
Lehrer*innen gestalten digitalen Unterricht ganz neu
Aus der Vielfalt an Möglichkeiten eine sinnvolle Auswahl zu treffen und sie inhaltlich wie technisch im Unterricht umzusetzen, ist die Aufgabe der Lehrkräfte. Um diesen technischen wie didaktisch-methodischen Anforderungen gewachsen zu sein, müssen sich künftige Abitur-Online-Lehrkräfte im Rahmen einer landesweiten Qualifzierungsmaßnahme durch das Landesinstitut für Schule (QUA-LiS) selbst in die Rolle der Lernenden begeben.
Ihre Qualifizierung erfolgt im Blended Learning über Moodle. Unterstützung auf der inhaltlichen Seite erhalten Lehrer*innen darüber hinaus durch interaktive Materialien, die für zehn Fächer landesweit in Bibliotheken online zur Verfügung stehen.
Digitale Medien im Unterricht haben großes Potenzial
Am Anfang von abitur-online.nrw stand der Wunsch, mithilfe digitaler Medien aus der zeitlichen Not vieler Interessent*innen durch die Halbierung der Unterrichtszeit in der Schule eine Tugend zu machen. Am Westfalen-Kolleg Dortmund haben 15 Jahre Erfahrung mit Blended Learning und seinen sich schnell entwickelnden Werkzeugen gezeigt, dass das Potenzial digitaler Medien im Unterricht weit über dieses Szenario hinausgeht: Lernen mit digitalen Medien macht individualisiertes und mobiles Lernen über verschiedene Kanäle leichter durchführbar – zum Beispiel Audio- und Videoaufnahmen per Handy oder Tablet zum passiven Hören beziehungsweise Sehen und auch deren aktive Produktion.
Lehrkräfte müssen technisch und didaktisch-methodisch am Ball bleiben
Blended Learning unterstützt die Kooperation zwischen Lernenden und Lehrenden gleichermaßen und ist nicht zuletzt aufgrund vieler spielerischer Elemente besonders motivierend. Deshalb sind digitale Medien seit langem ein wichtiger Bestandteil der Unterrichtsarbeit über abitur-online hinaus.
Weder für die Studierenden noch für die Lehrkräfte ist Online-Abitur ein Abitur „light“. Im Gegenteil: Von Studierenden wird ein hohes Maß an Selbstdisziplin verlangt, von Lehrkräften ein ebenso hohes Maß an Flexibilität und Bereitschaft sowohl technisch als auch didaktisch-methodisch bei den schnelllebigen digitalen Tools am Ball zu bleiben.