lautstark. 28.06.2024

Welche Bedeutung haben Übergänge für die Gesellschaft?

ChancengleichheitWissenschaft und ForschungPolitische Bildung

Knotenpunkte von Machtverhältnissen

Übergänge scheinen auf den ersten Blick nur auf der individuellen Ebene Auswirkungen zu haben. Im Interview erklärt Übergangsforscher Markus Rieger-Ladich, warum sie keineswegs harmlose Gegebenheiten im Lebenslauf sind und welche Bedeutung ihnen insbesondere für die Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse zukommt.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2024 | Wie Übergänge gelingen
  • im Interview: Prof. Dr. Markus Rieger-Ladich
  • Funktion: Übergangsforscher und Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen
  • Interview von: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
Min.
Markus Rieger-Ladich ist Professor an der Universität Tübingen. Er lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft und ist Mitglied des Graduiertenkollegs „Doing Transitions“ sowie des Netzwerks Theoretische Forschung in der Erziehungswissenschaft.

Übergänge im Leben von Menschen harmlos zu besprechen, liegt Ihnen fern. Nicht zuletzt deshalb gehen Sie ihnen wissenschaftlich auf den Grund. Was macht Übergänge mitunter zu herausfordernden und aufregenden Angelegenheiten?

Markus Rieger-Ladich: Es ist deshalb brisant, Übergänge zu erforschen, weil sie Knotenpunkte von Machtverhältnissen darstellen. Hier steht viel auf dem Spiel, hier werden Entscheidungen getroffen, die biografisch bedeutsam sind. Ich will das an einem Beispiel erläutern: Vor wenigen Tagen habe ich an einer Promotionsprüfung teilgenommen. Mit der Disputation ging eine Lebensphase zu Ende – die Arbeit an der Dissertation, die viele Jahre in Anspruch genommen hat. Seit der erfolgreichen Prüfung trägt die betreffende Person nun den Doktortitel. Mit diesem Titel werden Berechtigungen verliehen. Und an den Titel sind Erwartungen geknüpft. Der Übergang bringt sogar Änderungen in offiziellen Dokumenten wie dem Pass mit sich. Er wird aktenkundig. Und alle, die einmal an einer solchen Prüfung teilgenommen haben, wissen um die Anspannung und Aufregung, die im Raum entsteht.

Was macht dieses Beispiel für Sie als Übergangsforscher so interessant?

Markus Rieger-Ladich: Der Übergang ist ein Statuswechsel und positioniert die Person gesellschaftlich auf neue Weise. Und weil daran Berechtigungen geknüpft sind, werden Übergänge reguliert. Es können durchaus nicht alle mit Wohlwollen rechnen, wenn sie an der Schwelle eines Übergangs stehen. Im Rückblick liest sich das Promotionsverfahren wie eine Erfolgsgeschichte: Die Kandidatin stammt aus einer strukturschwachen Region in Süditalien; in ihrer Familie gab es zuvor keine Akademiker*innen. Schon der Wechsel an das Gymnasium war ein Wagnis. Dann spielte sie mit dem Gedanken, ein Studium aufzunehmen. Als auch das klappte, entdeckte sie die Leidenschaft für die Wissenschaft, zog nach Deutschland. Und dann – der letzte große Sprung: Sie entschied sich, zu promovieren. Und das ohne ein Elternhaus, das die Finanzierung übernahm. Das war nicht möglich. Also ging es darum, ein Stipendium zu ergattern, andere von dem eigenen Vorhaben zu überzeugen.

Sind Übergänge denn ganz natürlich kritische Sprünge und stets Wagnisse im Leben eines Menschen?

Markus Rieger-Ladich: Na ja, schon der Einstieg in unser Leben ist recht brutal. Der Wechsel aus dem Leib der Mutter in die Welt beginnt nicht selten mit Schreien. Es ist hell, es ist kalt, ganz anders als vorher. Das ist der erste Übergang. Die Geburt würde ich daher zu den elementaren Übergängen zählen. Mit der Geburt betreten wir eine Bühne, auf der wir unser Leben leben. Und sind dann immerzu damit beschäftigt, Komplexität zu reduzieren – einfach, weil viel zu viel auf uns einströmt. Und so unterscheiden wir zum Beispiel Lebensalter; sprechen von Kindheit, Jugend, vom Alter und so weiter. In der Regel tun wir das recht naiv und unterstellen, dass es Kindheit und Jugend einfach gibt. Genauso wie, dass es nachts dunkel wird und morgens wieder hell.

Die Geschichtswissenschaft aber zeigt, dass Kindheit eine späte Erfindung ist. Über Jahrhunderte hinweg haben wir das Leben organisiert, ohne mit dieser Kategorie zu arbeiten. Noch heute gibt es Gesellschaften, in denen Kindheit ein Privileg ist, das sich nur die „besseren Kreise“ leisten können. Hier kommt also keine „natürliche Ordnung“ zum Ausdruck. Der Philosoph Michel Foucault hat das schön formuliert. Er meinte: „Die Welt zeigt uns nicht ein Gesicht, das wir nur noch entziffern müssen.“ Nein, wir Menschen sind es, die Ordnungen stiften. Niemand sonst. Wir arbeiten mit Kategorien, wir verteilen Zugehörigkeit. Und wer zu welcher Gruppe gehört, wer zu welchem Geschlecht – das sind keine harmlosen Angelegenheiten.

Wie trägt Ihre Forschung dazu bei, dass sich gesellschaftlich etwas bewegt und demokratische Ordnung gelebt wird?

Markus Rieger-Ladich: Die Übergänge, die ich mit meinen Kolleg*innen im Graduiertenkolleg Doing Transitions erforsche, sind immer rückgebunden an symbolische Ordnungen und ökonomische Verhältnisse. Bei der Geburt geht’s ja schon los, wenn die Tante fragt, was es denn geworden ist. Und dabei klingt schon die Frage an, was es denn heißt, ein „richtiger Junge“ und ein „richtiges Mädchen“ zu sein. In der Frage nach dem Geschlecht artikuliert sich daher nicht nur Neugierde, hier werden auch normative Erwartungen aufgerufen. Spielen wir das einmal durch. Nehmen wir an, aus dem Neugeborenen wird ein junges Mädchen, das irgendwann feststellt, dass es andere Mädchen nicht nur viel sympathischer als Jungen findet, sondern diese auch begehrt.

Ihren ersten Kuss will sie keinem von den doofen Jungen geben. Sie hat von „heteronormativen Ordnungen“ noch nichts gehört, doch sie weiß, dass als normal gilt: Frauen verlieben sich in Männer und umgekehrt. Aber sie trifft sich jetzt immer häufiger mit einem Mädchen. Und irgendwann verlieben sie sich, werden ein Paar. Dann kommt der Moment, in dem sie es ihrer Familie und ihren Freund*innen sagt. Dieses Outing ist ein lupenreiner Übergang. Danach ist sie nicht mehr dieselbe. Wenn sie Glück hat, wird ihr Outing von allen begrüßt.

Aber davon kann sie nicht ausgehen. Sie muss leider mit Ressentiments, Vorbehalten und Diskriminierung rechnen – bisweilen auch mit Gewalt. Wem an der Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gelegen ist, sollte sich daher auch für Übergänge interessieren. Und dann muss man Verteilungskämpfe zum Gegenstand machen, man muss die Privilegierung gesellschaftlicher Gruppen aufdecken. Anders formuliert: Die Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses wird nicht vorankommen, ohne dass weiße Männer wie ich etwas von ihren Privilegien abgeben. Die wenigsten tun das gern, schon klar. Das rührt an Machtverhältnissen; hier müssen Ressourcen und Kapital umverteilt werden.

Wem an der Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gelegen ist, sollte sich für Übergänge interessieren. Und dann muss man Verteilungskämpfe zum Gegenstand machen, man muss die Privilegierung gesellschaftlicher Gruppen aufdecken.
 

Wie können Menschen eine Ordnung stiften, die Teilhabe und weniger kritische Übergänge für alle ermöglicht? Welche Veränderungen sind bereits im Gange?

Markus Rieger-Ladich: Wenn wir heute über Gleichstellung und Diversität sprechen, über Partizipation und Demokratisierung von Bildung, dann sind das Zeichen dafür, dass sich schon viel tut. Auf der anderen Seite bleibt aber noch eine Menge zu tun. An der Universität Tübingen denken wir darüber nach, wie wir jenen, die über keinen akademischen Background verfügen, den Einstieg erleichtern können. Wir müssen uns um eine Willkommenskultur bemühen – und das nicht nur für Studierende aus der Arbeiter*innenklasse oder aus prekären Familienverhältnissen, sondern auch für solche, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Auch das ist ein Übergang, der scheiteranfällig ist. Wir müssen Bildungseinrichtungen auf verdeckte Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung untersuchen.

Ich warne also davor, dass wir die Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft für bare Münze nehmen. Die Gesellschaften des Globalen Nordens beschreiben sich als meritokratisch: Hier gilt die Bestenauslese, Herkunft darf bei der Zuweisung der gesellschaftlichen Position keine Rolle spielen. Auch Hautfarbe, sexuelle und religiöse Orientierung dürfen hier nicht berücksichtigt werden. Das ist unser normatives Selbstbild; darauf haben wir uns verpflichtet. Gleichzeitig wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Wir wissen, dass Zugänge und Teilhabe immer noch höchst ungleich sind. Mit den Forschungen unseres Graduiertenkollegs wollen wir also auch dazu bei tragen, diese edle Selbstbeschreibung etwas zu entzaubern und daran zu erinnern, dass unsere Gesellschaft nicht einlöst, was sie verspricht. Dabei zeigt das Geschlechterverhältnis, dass es durchaus Grund zur Hoffnung gibt.

Lange dachten wir, hier regiere nur die Natur. Der Feminismus und die Geschlechterforschung haben – gegen viele Widerstände – gezeigt, dass es sich dabei um eine symbolische Ordnung handelt. Nun ist auch die queere Community sehr präsent. Und sie erinnert uns daran – zuletzt beim Eurovision Song Contest 2024 –, dass symbolische Ordnungen veränderbar sind. Wir können uns verweigern, auch in anderen Bereichen, und bleiben im besten Falle dabei nicht allein, suchen Bündnisse und solidarische Kontexte. Das ist zwingend notwendig, denn die fortschreitende Liberalisierung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird nicht von allen befürwortet. Wir müssen uns auf Gegenwind einstellen.